Lange liegen wir uns in den Armen und erzählen uns Geschichten. Es fühlt sich so gut an. So warm.
Widerwillig lösen wir uns irgendwann aus der Umarmung und machen uns schließlich auf den Weg.
Noch immer halte ich seine Hand.
Ich spüre die Magie. Hier ist alles so bunt. So magisch. So lebendig.
»Ist schon merkwürdig«, stelle ich nach einigen Schritten fest.
Wir gehen weiter. Ganz langsam nähert sich der graue Berg.
»Es ist alles merkwürdig«, meint er nur. »Zähl alle Tage an denen du stirbst und alle an denen du nicht stirbst. Verrechne die beiden Zahlen, zu der Wahrscheinlichkeit, dass du stirbst. Sie ist so gering. Und das merkwürdige daran ist, dass sie mit jedem Tag sinkt. Und trotzdem sind wir beide am selben Tag gestorben und trotzdem hier. Ist wirklich merkwürdig«
»Ich verstehe es jetzt zwar nicht, aber egal. Du hättest dich bestimmt gut mir ihr verstanden«
Ich ziehe in ein bisschen nach rechts, denn ich habe das Gefühl, dass die Richtung besser ist. Der Berg scheint doch höher zu sein, als gedacht. Daneben wir eine hohe grüne Fläche sichtbar. Sie sieht aus, als gäbe es dort mehr Schutz.
»Ich warte einfach, bis ich sterbe. Aber ich bin gerade erst gestorben. Ich kenne niemanden, der zweimal direkt hintereinander gestorben ist. Das ist wirklich unwahrscheinlich. So viel Glück habe ich auch nicht« Er zwinkert mir zu.
»Aber das meinte ich doch gar nicht« Die hohe grüne Fläche kommt immer näher. »Ich meine eher das was alles passiert ist. So viel ist schon passiert. Und es scheint noch lange nicht das Ende sein. Stell dir mal vor, jemand schreibt über unsere Geschichte ein Buch« Ich schüttel den Kopf. Das wäre wirklich unwahrscheinlich. »Merkwürdige Vorstellung«
Doch Max meint nur: »Ich würde das Buch lesen. Aber nicht das Ende. Nur bis jetzt. Sonst wäre es langweilig. Meinst du, dass es ein gutes Buch wäre?«
»Wen würde unser Leben schon interessieren?«, frage ich zurück.
Die Fläche ist nun besser zu erkennen. Es ist nur oben grün. Unten ist ist braun.
»Vielleicht. Meint du dort«, ich deute auf die Fläche, »das wir dort Schutz haben?«
»Ist das ein Wald? Würde auf die Beschreibungen passen«, stellt er fest.
Ich nicke. »Könnte tatsächlich passen. Ist grün und braun«
»Woher kennen wir eigentlich diese Farben? Ich meine wir haben unten selten bunte Farben. Und trotzdem kennen wir die Farben. Das ist schon merkwürdig. Und das könnten sich die Leser in dem Buch schon fragen. Außer deine Autorin hat es bereits hinein geschrieben«, er zwinkert mir zu.
»Du denkst immer über merkwürdige Sachen nach. Wir sollten langsam mal Pause machen und was Essen« Die Sonne verschwindet schon fast hinter dem Wald.
»Hier?«, fragt er nach.
Ich nicke. »Und du hast recht. Woher kennen wir diese Farben? Das ist schon merkwürdig. Aber es ist schon so viel merkwürdiges passiert, da ist es auch egal«
Wir setzen uns und ich krame im Rucksack. Die letzten beiden Ratten. »Aber vielleicht würde es gar nicht auffallen. Und ich glaube, es war eher als Scherz gemeint. Sie würde doch niemals meine Geschichte aufschreiben. Da gäbe es doch viel interessantere Geschichten«
Ich reiche ihm eine Ratte und wir schauen der Sonne hinterher. Schweigend essen wir die Ratte.
Irgendwann meint Max: »Aber was wenn doch. Wenn es dem Leser erst durch unser Gespräch auffällt, dass wir die Farben gar nicht kennen sollten und das so einiges nicht nach festen Regen verläuft?« Er nagt einen Knochen der Ratte ab. »Und deine Geschichte ist keineswegs langweilig. Es gäbe so vieles zu erzählen. Und sie ist noch lange nicht vorbei«
Ich kuschel mich an Max an. Gemeinsam liegen wir auf der Wiese. Warum weiß ich, dass es Wiese heißt? »Und was ist mit deiner Geschichte?«
Einige Zeit schauen wir der Sonne hinterher, bis sie komplett hinter dem Wald verschwunden ist und einen roten Himmel hinterlässt
»Das ist was anderes. Darum geht es doch nicht. Ich spiele in deiner Geschichte eine zentrale Rolle. Ich gehöre zu deiner Geschichte dazu. Aber meine eigene Geschichte...sie wäre nicht so interessant wie deine«
Widerwillig stehe ich auf. »Warum ist es dann meine Geschichte und nicht unsere?«
Max liegt noch auf der Wiese und zuckt nur mit dem Schultern. Sein Blick scheint mich zu fragen, warum ich stehe.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich muss mal. Bin gleich wieder da«
Ein erfrischender Wind kommt mir entgegen, als ich Richtung Wald gehe. In der Dunkelheit sieht der Wald nur noch grau aus, aber deutlich magischer. Ganz anders als Tagsüber. Am Himmel leuchten tausende Sterne.
Langsam gehe ich in den Wald, in die völlige Dunkelheit. So dunkel. Unter der Erde ist es immer dunkel, aber niemals so dunkel. Das ist ungewohnt.
Nach kurzer Zeit gehe ich wieder zurück. Schon einige Schritte von ihm entfernt höre ich sein leises Schnarchen. Er schläft schon. Vorsichtig, um ihn zu wecken, lege ich mich neben ihn.
Lange Zeit schaue ich einfach nur nach oben. Beobachte die Sterne bei ihrem Lauf über den Himmel. So viele leuchtende Punkte. Kaum zu glauben, dass ich vor kurzer Zeit selbst noch da oben war. Von hier unten erscheint es eher wie ein Traum, so unwirklich. Das kann doch nicht stimmen.
Ist jeder dieser leuchtenden Punkte vielleicht eine Seele? Eine Seele im Himmel. Unter ihnen ist auch meine Mutter. Sie würde die Geschichte lesen wollen. Was wenn die Frau, wirklich meine Geschichte aufschreibt. Wenn jeder dieser Sterne eine Person ist, die sich meine Geschichte gerade ansieht. Ein Licht, das meinen Weg verfolgt. Unseren Weg verfolgt. Was ist, wenn meine Mutter unsere Geschichte gerade ansieht? Und die Frau sie für alle aufschreibt?
Ich spüre Tränen über meine Wange laufen. Was mein Vater wohl gerade macht?
Ich verstehe es doch selbst nicht alles. Wie sollen andere es verstehen. Wieso kennen andere meine Zukunft und meine Vergangenheit besser als ich selbst? Warum hat sie gerade mich wiederbelebt und mit mir gesprochen. Max hätte das alles doch viel besser verstanden.
Wilde Bilder erscheinen. Meine Mutter spricht mir. Plötzlich ist es die Frau. Max kommt aus dem Nichts und fängt an zu lachen, die Sterne beginnen wild zu Tanzen und liefern sich ein Wettrennen. Mein Vater ist ganz vorne, da wird er von Max überholt, der meinen Namen ruft.
Auf einmal ist alles weg und es herrscht Stille. Stille und Dunkelheit.