»Wir sind da!«, rufe ich und renne den bekannten Weg entlang. So bekannt und doch so fremd. Es ist zu viel passiert in der Vergangenheit. Viel zu viel. Hier ist es viel zu leer. Früher habe ich mit den Menschen nie viel gesprochen, wollte lieber Ruhe. Doch jetzt ist es zu ruhig. Ich habe hier noch keinen gesehen. Wo sind sie alle?
Ich werde schneller. Ich renne zu meinem alten Haus. Zu meiner alten Heimat. Doch ist es noch meine Heimat? Obwohl ich alles kenne, ist es doch so fremd. Es fühlt sich an, als wäre das alles hier ein anderes Leben gewesen. Warum ist hier noch immer niemand. Das ist irgendwie merkwürdig. Zu merkwürdig. Kann es sein, dass sie alle...
Ich sprinte weiter, ich bin schon fast zu Hause. Ich kann das Haus sehen und stürme darauf zu. Vor der Tür bleibe ich stehen. Kann ich einfach so rein? Es fühlt sich merkwürdig an. Wie ein alter Freund, den man nach Jahren wieder trifft. Man kennt ihn und doch ist er so fremd. So unbekannt.
Wo ist eigentlich Daniel? Ich drehe mich um und sehe ihn tatsächlich kommen. Er nähert sich immer weiter mir und dem Haus. Was mein Vater wohl zu ihm sagen würde? Daniel bleibt neben mir stehen und starrt das Haus an. Es verschwindet halb im Felsen, wie die meisten Häuser hier. Für Daniel scheint es besonders zu sein.
»Worauf warten wir?«, fragt er plötzlich.
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es selbst nicht. Bis du fertig bist mit staunen?«
Er nickt. »Dann mal los. Ich werde noch genug Zeit haben, mir all das anzusehen«
Langsam gehe ich auf die Tür zu. So lange war ich schon nicht mehr. So viel ist passiert. Vorsichtig öffne ich die Tür und betrete das Haus, Daniel folgt mir. Er schaut sich die ganze Zeit um. Wahrscheinlich ist das alles so neu für ihn, wie es für mich oben war. Es ist doch alles nur ein Traum. Das alles kann doch nicht wirklich passiert sein.
»Papa!«, rufe ich und hoffe. Hoffe, dass er gleich hinter der nächsten Ecke auftaucht. Doch alles bleibt still. Kann das sein? Ich setzte mich auf einen Stuhl. Warte und hoffe. Worauf? Das wüsste ich auch gerne.
Daniel setzt sich auf einen anderen Stuhl, aber auch er sagt nichts. Warum ist hier niemand? Noch nie war es hier so leer. Wenigstens ein paar Menschen müssten wir doch begegnet sein oder nicht?
Ich zwinge mich dazu aufzustehen und laufe los.
»Wo gehst du hin«, fragt mich Daniel, doch ich reagiere nicht auf seine Frage.
Kurz darauf stehe ich im Zimmer meines Vater.
»Da bist du endlich«, begrüßt er mich schwacher Stimme. Er sieht krank aus. Ungesund. Ziemlich schwach. Aber er lebt und wir haben ein Medikament.
Langsam gebe ich auf das Bett zu und greife seine Hand.
»Wir haben ein Medikament gefunden«, erkläre ich ihm fröhlich. »Es gibt die Welt oben. Ich war selbst dort. Ich war sogar im Himmel«
Mit kratziger Stimme meint er leise: »Du lebst noch. Zum Glück. Und du hast ein Medikament. So wie ihr früher davon geschwärmt habt...ich wusste, dass ihr irgendwann nach oben kommt. Ich wusste, dass ihr es überleben werdet«
Ich setzte mich zu ihm auf das Bett. Ich sehe Daniel an der Tür stehen, doch er scheint nicht hineinkommen zu wollen.
»Ich muss dir etwas sagen«, beginne ich, doch kann nicht weitersprechen. Tränen tropfen auf sein Bett.
»Was ist es?«, fragt er nach. »Was ist passiert?«
»Max«, erkläre ich. »Er ist tot. Im Himmel. Bei Mama. Max ließt ihr immer Geschichten vor. Und den ganzen anderen auch. Jede Nacht. Deshalb sind über der Erde so viele Sterne. Und deshalb leuchten die Wände hier«
Ein leichtes Grinsen bildet sich in seinem faltigen Gesicht. »Wenigsten sind die beiden dort oben zusammen. Du erzählst immer so tolle Geschichten. Max hat auch immer so schöne Sachen erzählt«, er hustet und spricht dann weiter. ».Ich bin stolz, auf das was du getan hast. Deine Mutter und Max sind auch bestimmt Stolz auf dich«, er drückt meine Hand fester. »Zu viele sind gestorben. Das musst du verhindern. Du kannst es verhindern«
Er sinkt wieder zurück.
»Ich verspreche es. Ich werde mein bestes zu geben, dass niemand weiteres noch stirbt«
Er schaut mich an und flüstert dann: »Einer muss noch sterben. Ich bin zu schwach. Ich muss Max besuchen gehen. Jetzt wo ich dich endlich wieder gesehen habe, kann ich in Frieden gehen. Du bist echt groß geworden Anna«
Ich beuge mich zu ihm runter. »Nein! Du kannst jetzt nicht gehen. Du musst bleiben«, erkläre ich ihm verzweifelt. Weitere Tränen tropfen auf ihn herunter. »Nein!«
»Ich muss gehen. Ich hätte schon viel zu lange gehen müssen. Es lässt sich nicht ändern. Ich spüre es«
»Aber...«, ich rücke noch ein Stück näher an ihn ran. »Aber das geht doch nicht. Du kannst jetzt nicht sterben«
»Du kannst nichts dagegen tun«, stellt er fest. »Niemand kann das. Ich habe mich damit abgefunden. Ich hatte schon viel zu viel Zeit«
»Aber..«
»Leb wohl«, meint er und schließt seine Augen.
»Nein!«, rufe ich, doch es ist zu spät. Er wird nicht wieder aufwachen. Egal was ich jetzt tue. Ich sitze auf dem Bett, neben seinem Körper. Wie lange ich dort sitze, weiß ich nicht, doch ich werde müde. Es ist doch alles egal. Es sind alle tot. Mama ist tot, Max ist tot, Vater ist tot, selbst Emma ist tot. Nur Daniel ist nicht. Er ist ein Mörder. Warum lebe ich dann noch? Sollte ich nicht auch schon längst tot sein? Es macht doch alles keinen Sinn, wenn alle tot sind. Max ist losgelaufen, um andere zu retten. Ich auch. Aber es sind mehr gestorben. Viel zu viele. War der Preis vielleicht zu hoch? Viel zu hoch.
****
Das alles verschwindet immer weiter weg. Neues drängt sich in den Hintergrund. Ich sehe den Himmel. Ich laufe über die weiche Oberfläche, wie ich es beim letzten Mal schon getan hatte. Wie konnte ich schon wieder hier sein? Es muss ein Traum sein.
»Da bist du wieder«, begrüßte mich nach kurzer Zeit die bekannte Stimme.
»Warum mussten sie alle sterben?«, frage ich sofort nach.
»Im Leben wird es immer Leid und Schmerzen geben. Einige behaupten sogar: ›Kein Frieden ohne Leid. Je größer das vorherige Leid, desto größer der Frieden‹. Aber in wie weit das stimmt, ist dir selbst überlassen«, ihre Stimme hallt über die weiter Ebene, ohne das sie laut spricht. »Jedenfalls lässt sich Leid niemals ganz verhindern. Es werden immer Menschen gehen und Menschen kommen. Außer ihr schafft es euch selbst auszulöschen, was durchaus möglich wäre. Lässt sich nicht verhindern. Es gibt dafür keinen richtigen Zeitpunkt. Manchmal sind es viele auf einmal, wann anders weniger. Das ist einfach so. Beantwortet dies deine Frage?«
»Naja. Ich bekomme wohl keine bessere Antwort oder?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein wohl nicht. Ich kann dir dazu nicht mehr sagen. Aber sie sind zusammen. Gemeinsam. Haben ihren Frieden. Vielleicht ist an der Sache mit den Frieden und dem Leid doch etwas dran«
Ich schaue sie an, wie sie dort über der weißen Oberfläche schwebt. »Was bist du? Wer bist du?«, frage ich sie.
»Wer ich bin, das kann ich dir nicht sagen. Du kannst nicht alles wissen. Du würdest es nicht verstehen und es würde dich nur viel zu sehen verwirren. Ich kann mich nur wiederholen. Ich bin so etwas wie deine Autorin. Aber der wahre Autor deiner Geschichte ist nochmal jemand anders. Es ist viel zu kompliziert. Das kannst du nicht verstehen. Bald – bald werden wir genug Zeit haben, um ihn Ruhe darüber zu reden. Doch momentan ist einfach der falsche Zeitpunkt. Ich habe dir wichtiges zu sagen: Du musst weiter machen. Es scheint aussichtslos. Doch die Menschen haben Angst. Angst vor dem Fremden. Diese Angst musst du ihnen nehmen. Ansonsten ist ein gutes Ende schwierig. Wie ich bereits sagte: Die Angst vor dem Feind ist stärker, als der Feind selbst«
»Heißt das, dass sie Angst vor Daniel haben?«
»Nicht nur. Angst vor dem fremden im Allgemeinen. Daniel ist nur momentan am sichtbarsten. Deshalb sind euch bisher alle aus dem Weg gegangen«
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Ich habe das Gefühl, dass bald etwas großes passieren könnte. Ich kann dir nicht sagen was. Ich kann dir auch nicht sagen, was du tun sollst. Aber ich kann dir diese Hinweise geben. Mehr kann ich nicht tun. Es könnte alles zerstören. Wenn ich mehr sage und wenn ich weniger sage. Nun musst du die richtige Entscheidung treffen. Deine Entscheidung«