Ich spüre, wie mein Kopf bei jedem Atemzug von ihr hochgeht und wieder absinkt. Hoch und runter. Hoch runter. Ich öffne meine Augen und blicke in Annas Gesicht. Schnell stehe ich auf und schaue auf sie herunter. Sie liegt auf dem Boden uns starrt merkwürdig an.
»Was ist passiert?«, frage ich vorsichtig nach. Warum schaut sie mich so merkwürdig an.
»Nichts«, meint sie und steht auf. »Was soll schon passiert sein?«
»Warum schaust du mich so an?«, ich hole ein bisschen zu Essen aus meinem Rucksack. Ich habe es ihr gestern erzählt. Warum? Warum erzähle ich es ihr? Ich hätte es ihr niemals erzählen dürfen! Sobald sie die Gelegenheit hat, wird sie verschwinden. Aber vielleicht ist es auch besser. Vielleicht ist es besser, wenn ich alleine weiter gehe. »Das Essen ist fast leer«, stelle ich fest. Aber ich habe noch das Medikament. Ich kann es ihr nicht selbst geben. Das könnte einen falschen Eindruck erwecken. Sie muss es sich selbst nehmen.
»Es sollte nicht mehr weit sein. Wir haben die ganze Zeit die Rattenfallen vergessen«, stellt sie fest.
»Welche Rattenfallen?«, frage ich nach und starre auf den Boden.
»Mist«, flucht sie. »Ich habe den Rucksack ja gar nicht mehr. Hoffentlich sind wir dann bald da«
»Ich muss mal«, stelle ich fest.
»Ich auch«, kommt ihre Antwort.
Wir verschwinden in zwei verschiedene Richtungen. Ich gehe extra weit und lasse mir Zeit. Sie ist bald da. Das ist gut. Ich könnte ihr gar nicht mehr helfen. Den Rest muss sie alleine machen. Aber ich kann ihr das nicht sagen. Ich brauche es ihr gar nicht zu sagen, denn sie wird bei der nächsten Gelegenheit gehen. Sie kann mich gar nicht mitnehmen. Ich bin ihr Feind. Ich bin ein Mörder.
Langsam kehre ich zurück. »Wo warst du so lange?«, fragt mich Annas Stimme.
Ich zucke zusammen und antworte ich nicht. Schweigend bleibe ich stehen. »Was machst du noch hier?«, frage ich irgendwann.
Ich spüre, wie sie mit den Schultern zuckt, obwohl ich sie nicht ansehe. »Warum sollte ich gehen? Ich gehe mit dir zusammen. Warum glaubst, du dass ich alleine gehen werde?«
Ich starre auf den Boden und warte. Worauf ich warte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Weggehen? Nein, dass kann ich nicht. Ich kann sie nicht alleine zurücklassen. Wohin sollte ich gehen? Zu ihr gehen? Nein. Das sollte ich nicht. Ich darf ihr nicht zu nahe kommen. Ihr antworten? Was sollte ich ihr sagen? Ich kann ihr nichts sagen. Es wäre falsch. Also warte ich. Ich warte darauf, dass etwas passiert. Aber was soll schon passieren? Wir sind unter der Erde mitten im Nichts. In irgendeinem Tunnel. Was soll hier unten schon überraschendes passieren? Nichts!
Langsam kommt Anna auf mich zu. Ich schaue auf den Boden, doch ich bemerke ihre Bewegung aus den Augenwinkeln. Kurz bevor sie mich erreicht, bleibt sie stehen. Ich spüre ihr Blicke auf mir, doch ich bleibe still. Bewegungslos. Ich warte noch immer. Doch nichts passiert.
»Lass uns lieber weitergehen, anstatt hier zu warten. Bringt doch nichts«, stellt Anna plötzlich fest.
»Was?«, ich blicke zu ihren Füßen. Sie zeigen zu mir. Irgendwas stört mich daran, ich weiß nur noch nicht was. Langsam hebe ich meinen Blick, bis ich ihr die Augen sehe, doch ich senke meinen Blick sofort wieder.
»Es ist nur so, dass wir hier gerade nur Zeit verschwenden. Wir sollten weiter gehen«
Ich mache einen Schritt zurück. »Zusammen?«, frage ich leise.
»Ich lasse dich nicht alleine!«
»Bist du dir da sicher?«
»Auf jeden Fall. Warum nicht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Hätte ja sein können, weil...«
»Weil was? Jeder hat Geheimnisse und dunkle Seiten. Doch du willst deine Fehler wieder gut machen. Warum also sollte ich auf deine Hilfe verzichten? Menschen könnten Sterben«
»Es sind schon Menschen wegen mir gestorben«, murmel ich leise.
»Es sollen aber nicht mehr werden! Deshalb müssen wir langsam weiter«
Anna geht los. Doch ich folge ich ihr nicht.
»Worauf wartest du?«
Ich setze meinen Rucksack auf und folge ihr langsam, dann schneller. Nach kurzer Zeit hole ich sie ein und laufe leben ihr her.
»Ich kann es noch immer nicht verstehen«, erkläre ich ihr. »Ich bin ein Mörder und es macht dir rein gar nichts aus. Wieso?«
Eine Zeit lang hallen nur unsere Schritte durch den Tunnel. »Ich kann es mir nicht leisen«, meint sie schließlich. »Es sind zu viele gestorben. Ich muss helfen. Mein Volk braucht Hilfe. Und du willst helfen. Du bist der einzige, der helfen kann. Wieso sollte ich also deine Hilfe ablehnen?«
»Menschen sind merkwürdig. Sie haben die Eigenschaft, regelmäßig Dinge zu tun, die andere überraschen«, stelle ich fest. »Ich weiß es nicht. Immer wenn das Wort Mörder oder Tod fällt, wenden sich die Menschen ab. Immer. Niemand bleibt, wenn er das erfährt. Deshalb hat es bisher niemand erfahren. Niemand«
»Und genau deshalb bleibe ich. Weil du mir so sehr vertraust, dass du mir das hier erzählst. Weil ich die erste bin, der du das erzählst. Deshalb«
Ich antworte nicht darauf. Denn ich wüsste eh nicht, was ich antworten soll. Wir biegen in einen anderen Tunnel und laufen weiter.
»Außerdem«, beginnt Anna, doch sie spricht nicht weiter.
»Was ›Außerdem‹?«
Nach kurzer Zeit spricht sie leise weiter. »Außerdem und das ist ein wichtiger Grund: Ich liebe dich«
Ich fühle mich leerer, als die Tunnel um mich herum. Wie ein Stein. Kalt und leblos.
»Ich weiß, dass du mich niemals lieben kannst. Du hast es geschworen. Es ist auch in Ordnung. Und doch liebt man jemanden umso mehr, je unerreichbarer dieser ist. Ich habe mich damit bereits abgefunden. Aber deshalb kann ich dich niemals hier alleine lassen. Du würdest hier unten alleine niemals lange überleben«
Ich schaue sie an. »Du weißt schon, dass Liebe viel schneller zu Morden führt? So viele Menschen, die aus Liebe getötet werden«
»Aber...das würde ich niemals tun«
»Genau das gleiche dachte ich auch«, erwidere ich. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals zu so etwas fähig sei. Die Liebe ist toll. Aber manchmal ist der Preis einfach zu hoch«
Sie bleibt ruhig, wahrscheinlich um über meine Worte nachzudenken. Irgendwann meint sie: »Ich kann nichts für meine Liebe. Liebe ist Liebe. Du wirst mich nicht lieben können und das ist völlig in Ordnung. Doch manchmal ist es nicht wichtig geliebt zu werden. Manchmal ist es doch viel wichtiger selbst lieben zu können. Jemanden mit all seinen Fehlern zu lieben. Ihn lieben zu dürfen. Ist das nicht sehr viel wertvoller. Nichts gegen deine Entscheidung. Ich will dich nicht dazu überreden. Du hast es geschworen. Dann solltest du es nicht einfach so brechen. Doch du kannst darüber nachdenken«
Nun war ich dabei nachzudenken. Vielleicht hat sie sogar recht. »Aber es stimmt nicht immer. Ich bin nicht damit klargekommen, dass sie mich nicht geliebt hat. Doch es war anders. Ich dachte, dass es wichtig sei. Doch ich habe sie immer geliebt. Trotzdem. Vielleicht hast du ja recht. Da fällt mir tatsächlich ein Zitat ein. Ich weiß nur nicht mehr, von wem es ist. ›Magst du eine Rose pflückst du sie. Doch nur wenn du sie liebst, gießt du sie täglich‹. Vielleicht war dies der Fehler«
»Ein toller Spruch«, meint Anna. »Es gibt wohl unterschiedliche Arten von Liebe. Und das ist auch toll. Für jeden ist Liebe etwas anderes. Niemand kann Liebe beschreiben. Sie ist immer wieder aufs neue überraschend. Wäre doch langweilig, wenn man es verstehen würde und schon wissen könnte was passiert«
»Da hast du schon wieder recht. Wäre ziemlich langweilig. Manchmal würde es aber viel Stress ersparen«, stelle ich fest. »Was ist das?«
Wir sind in einer großen Höhle. Vor uns sind ein paar Löcher in der Wand. Sind das Fenster? Niemand ist hier und doch scheinen wir hier richtig zu sein.
»Wir sind da«, ruft Anna freudig. »Endlich. Aber warum ist es hier so leer?«
Ich zucke mit den Schultern. »Keiner da. Wahrscheinlich nur was harmloses«