»Da rein!«, befiehlt der Soldat. Wo ist Daniel jetzt hin? Es ging alles so schnell und da war Daniel weg. Ist er ihnen entwischt? Ich betrete die dunkle Zelle und die Tür schließt sich hinter mir.
Wie soll er entwischt sein? Oder haben sie ihn einfach nur schneller weggeschafft?
Woher wussten sie überhaupt, dass wir da sind? Wieso konnten sie uns finden? Sie waren viel zu weit oben. Warum sind sie immer da, wo wir sind? Beim letzten Mal haben sie mich nicht bekommen. Auch diesmal werden sie nicht siegen.
Ich schlage gegen die Tür. Und noch mal. Ein drittes Mal. Diesmal wird keiner sterben. Ich werde hier raus gehen und Daniel wird mitkommen. Wir werden zusammen weiter gehen.
Ein weiteres Mal hämmer ich gegen die Tür. Dann endlich höre ich Schritte. Eine Tür wird geöffnet und fällt ins Schloss. Ist das Daniel? Aber er war doch vor mir. Ich habe ihn nicht überholt...obwohl ich war zu sehr damit beschäftigt, mich durch die Gegend zerren zu lassen.
Noch einmal hämmere ich gegen die Tür. Endlich geht die Tür auf. »Bringt mich hier weg. Ich will mit diesem Typen reden. Über Max und Ratten«, fordere ich.
Sie beginne leise zu tuscheln. »Lasst euch Zeit. Ich kann ja hier ruhig versteinern. Macht ja nichts«, unterbreche ich sie. Ich bin schon viel zu lange wach und ich habe Hunger. Doch zuerst muss ich das hier zu Ende bringen. Ich bin es Max schuldig.
»Ist schon gut«, versucht mich eine Frau zu beruhigen. »Folge uns einfach«
Langsam treten sie beiseite und führen mich durch die Gänge. »Hier rein. Du musst aber kurz warten«, erklären sie mir.
»Ist ja egal, wie viele Menschen noch sterben. Lasst euch ruhig Zeit«, stelle ich fest und betrete den Raum. Die Tür schlägt hinter mir zu und ich setzte mich auf einen der beiden Stühle.
Nichts passiert. Ich warte. Wie lange muss ich wohl noch warten?
Haben die es nicht eilig? Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Menschen werden sterben.
Endlich geht die Tür auf und ein Mann kommt herein. Wortlos setzt er sich auf den anderen Stuhl.
»Jemand der freiwillig zum Verhör erscheint«, er schüttelt seinen Kopf. »Das hatten wir noch nie«
»Lasst mich gehen. Ich habe nicht ewig Zeit. Ich muss das Medikament nach unten bringen«, stelle ich klar.
»Warte warte. Bisher hat es keiner überlebt hier oben gefangen zu werden. Das ist eine Verbote Zone. Das müsstest du eigentlich wissen. Du warst ziemlich weit oben«
»Max hat schon alles wichtige erzählt, wie ich ihn kenne. Und was habt ihr dort oben gemacht? Sollten ihre Soldaten nicht auch weiter unten bleiben?«, frage ich nach.
»Das ist was anderes«, wehrt er sich.
»Ach ja?«, ich schaue ihm in die Augen. »Wie kann das anders, sein wenn dies eine verbotene Zone ist?«
Ich stelle meinen Rucksack auf den Tisch. Ich hatte ihn völlig vergessen. »Ich habe noch eine kleine Überraschung. Falls du es überhaupt sehen willst«, ich grinse ihn an.
»Was ist da drin?«, fragt er nach, bewegt sich aber schon einen Schritt nach hinten.
Ich habe sie darin vergessen. Ist nicht mehr ganz frisch, aber sollte reichen. Ich öffne meinen Rucksack und sofort schlägt mir der Gestank entgegen. Ich habe sie wohl doch zu lange darin vergessen. Ich lege den Rucksack auf den Tisch. Sie war noch drin für den Notfall und dann waren wir plötzlich oben und ich habe sie vergessen.
»Was ist es«, fragt er vorsichtig nach.
»Schau rein, wenn du dich traust« erwidere ich. »Aber um dir den Ekel zu ersparen. Das ist mein Teil der Abmachung«
Ich lehne mich zurück und warte auf seine Reaktion.
»Welche Abmachung?«
»Oh, ich konnte nicht ahnen, dass sie vergesslich sind. Die Abmachung hat mein Bruder beim letzten Mal geschlossen. Er erzählte mir, dass sie gegen Vorlage einer toten Ratte Wünsche erfüllen. Er wollte er ja selbst machen...aber das ist momentan schwierig«
»Er ist tot!«, meint er schon fast panisch.
»Ich kann deinen Schrecken verstehen. Aber er wurde leider von einem Stein erschlagen. Als enger Freund tut es mir wirklich Leid dir das unter dieser Umständen erzählen zu müssen«, stelle ich mit einem leichten Grinsen fest.
Er steht auf. »Jetzt hör auf, diesen Unsinn zu erzählen!«, brüllt er mich an. »Beantworte meine Fragen!«
»Warum auf einmal so aggressiv?«, frage ich leise nach. »Es ist doch ein freundliches Gespräch gewesen bisher. Und wenn du die Wahrheit nicht hören willst, dann erzähle ich halt Märchen. Jedenfalls setzt dich mal lieber. Ich habe nicht ewig Zeit und will endlich hier voran kommen«
Widerwillig setzt er sich hin. »Ihr beiden. Ihr treibt mich noch in den Wahnsinn«, brummt er.
»Zurück zum Deal. Daniel und ich werden freigelassen und gehen direkt nach unten und heilen die Krankheit. Medikamente haben wir bereits. Also erfüllen sie ihren Teil?«
»Warum sollte ich deine frechen Wünsche erfüllen?«
»Weil du Max beim letzten Mal bereits umbringen wolltest und es nicht geschafft hast. Weil es hier um unser Volk geht. Weil es irgendwer tun muss«
»Nein! Er hat es vielleicht überlebt. Aber Daniel kommt von oben, richtig? Warum sollte ich nach unten lassen?«
»Dann bringt mich um. Jetzt sofort hier. Falls du es machst, lässt du uns frei«, fordere ich.
»Du vergisst wer hier die Macht hat. Normalerweise würde ich deine Art bewundern, aber hier ist kein Platz dafür«
Er steht auf und klopft an der Tür. »Schafft sie in ihre Zelle und schafft Daniel her«, befiehlt er und setzt sich wieder.
»Jetzt kannst du sehen, wer hier die Macht hat. Ich werde mir noch überlegen, was ich mit dir tue«
Zwei Männer kommen herein und ziehen mich an den Armen hoch. Ich versuche mich zu wehren, doch sie zerren mich durch den Raum.
»Ich werde hier raus kommen. Daniel auch. Max hat es schließlich auch überlebt. Du hast es nicht geschafft, ihn umzubringen. Ich habe ihn gerettet«
Die Soldaten zerren mich weiter durch die Gänge und stoßen mich schließlich in die Zelle.
Ich lasse mich auf das Bett fallen und starre in die Dunkelheit.
Ist das hier das Ende?
Ein Spruch taucht in meinen Kopf auf: ›Jeder Anfang braucht ein Ende und jedes Ende einen Anfang‹. Stammt der Spruch von Max? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Max das jemals gesagt hat. Woher habe ich diesen Spruch?
Wenn dies das Ende ist, was ist der Neuanfang? Und hatten wir nicht bereits beim letzten Mal einen Neuanfang?
Max ist gestorben. Endgültig. Das kann ich spüren. Das ist das Ende. Doch was ist der Neuanfang?
Bin ich der Neuanfang?
Tränen laufen an meinen Wangen herunter. Ich habe mich verändert. Wie ich mit ihm gesprochen habe...schlimmer als Max es getan hätte. Wenn Max jemals in einer solchen Situation auch nur halb so schlimm reagiert hätte, wie ich jetzt...ich hätte ihn eigenhändig umgebracht. Und jetzt? Was ist mit mir passiert?
Ich erinnere mich daran, wie ich mit Max am See lag. Wir zusammen uns Geschichten ausgedacht haben. Das war eine völlig andere Welt. Wie in Traum.
Er wäre fast gestorben, ich verlor den glauben an die Magie. Doch die Magie war niemals Schuld. Wie ich Max davon anhalten wollte, hier hoch zu kommen. Ich wollte ihn nur zum umkehren raten. Ich hätte niemals geglaubt es so weit zu schaffen. Das ist alles wie ein langer Traum.
Und jetzt liege ich hier, alleine im dunklen und habe alles verloren. Auch mich selbst. Ich bin anders geworden. Es war ein Ende. Und auch ein Neuanfang.
Ich habe vieles gewonnen. Ich habe Hoffnung gewonnen. Ich habe Daniel kennen gelernt. Ich habe so vieles erreicht. Wieso sollte ich gerade jetzt sterben? Meine Geschichte ist noch nicht vorbei. Es ist bloß ein Neuanfang und noch lange nicht das Ende. Meine Geschichte kann hier noch nicht Enden. Dieses Ende wäre meiner Geschichte nicht würdig.
Doch wie komme ich hier bloß wieder raus? Ich habe keinen Max mehr, der immer eine schräge Idee auf Lager hat und es damit sogar immer wieder schafft.
Es muss einen Grund geben, warum Max gestorben ist. Beim letzten Mal hat sie ihn wiederbelebt. Wusste sie damals, dass er erneut sterben wird? Warum hat sie ihn dann wiederbelebt?
Ich starre an die dunkle Decke. Was Max wohl gerade macht? Ich weiß es nicht. Ich weiß so vieles nicht. So viele Fragen, doch niemanden der sie mir beantwortet.
Die Tür wird aufgerissen und ein Streifen Licht fällt in die Zelle. »Er will ein weiteres Mal mit dir sprechen«, ist das einzige was sie sagen.
Ich stehe auf und folge ihnen, wieder zurück in den Raum von eben. Ich trete ein und bleibe stehen. Daniel sitzt auf Stuhl. »Was machst du den hier?«, ich laufe zu ihm und umarme ihn.
Sofort stellen die Soldaten einen weiteren Stuhl an den Tisch. Sie verschwinden wieder und schlagen die Tür hinter sich zu.
Ich setzte mich auf den Stuhl. »Was gibt es?«, frage ich nach.
»Ich muss mit euch beiden reden«, meint er nur.
Ich blicke auf den leeren Tisch. »Wo ist die Ratte?« Ich starre ihn an. »Willst du meinen Wunsch jetzt doch noch erfüllen oder bist du zu feige?«
»Anna!«, ermahnt mich Daniel von der Seite. »Was ist los mit dir?«
»Ja genau. Was ist los mit dir?«, wiederholt der Typ.
»Also was ist jetzt?«, frage ich nach ohne auf die Fragen einzugehen.
Er blickt mich an, ohne etwas zu sagen.
»Aber das würde diesen merkwürdigen Geruch erklären«, stellt Daniel fest.
»Was?«, fragen wir ihm Chor nach und ich sende einen bösen Blick über den Tisch.
»Die Ratte«, stellt Daniel fest.
»Aber darum geht es doch gar nicht«, stelle ich fest.
»Worum geht es dann?«, fragt Daniel nach.
Ich deute nach vorne. »Das fragst du am besten ihn«
»Wo ist der Rucksack«, fragt Daniel stattdessen.
»Ich habe ihn entfernen lassen. Da lag eine verweste Ratte drin, die deine Freundin wohl ziemlich lange mit sich herum geschleppt hat und mir auf den Tisch legen wollte. Wollte mich damit nur ärgern«
»Aber das stimmt doch gar nicht«, brülle ich ihm entgegen.
»Hattest du eine Ratte in deinem Rucksack?«, fragt mich Daniel.
»Ja«, stelle ich leise fest.
»Wolltest du diese auf den Tisch legen?«, fragt Daniel weiter.
»Ja, das wollte ich! Aber da musst du auch die gesamte Geschichte kennen. Es war eine Abmachung. Max sollte es schaffen, hier raus zu kommen und dann sollte eine tote Ratte auf seinem Tisch landen. Dann würde er einen Wunsch erfüllen. War nicht meine Idee«, ich zucke mich den Schultern. »Du hast gesehen, das Max noch am leben war. Max hat es überlebt. Und ich habe ihm die Ratte vorbei gebracht«
»Stimmt das?«, fragt Daniel nach und schaut den Mann an.
»Naja, ich hatte mit Max da so etwas ausgehandelt«, gibt er zu.
»Also wirst du diesen Wunsch erfüllen«, stellt Daniel fest. »Du hast es versprochen. Max hat es überlebt. Ich habe es gesehen. Die Ratte habe ich gerochen. Wo ist also das Problem?«
»Wieso sollte ich dir glauben?«, fragt er Daniel. »Du bist aus einem ganz anderen Volk. Du bist der Feind«
»Ich will euch bloß helfen. Aber wenn du es verantworten kannst, dass dein gesamtes Volk an der Krankheit stirbt...«
Daniel stellt seinen Rucksack auf den Tisch und kramt darin herum.
»Nicht schon wieder«, stöhnt der Mann.
Daniel stellt die Packungen auf den Tisch. »Die Medikamente«, erklärt er. »Was willst du noch?«
»Unter einer einzigen Bedingung«, der Mann steht auf. Ihr wart niemals hier. Das alles habt ihr niemals gesehen. Ich seid mir niemals begegnet. Und ihr lasst mir ein bisschen von dem Medikament hier«
Daniel packt alle Packungen bis auf eine wieder ein. »Abgemacht«
Schließlich klopft dem Mann auf die Schulter. »Ich wusste, dass du in Ordnung bist. Wir werden das alles vergessen und du wirst er vergessen«
»Lasst sie gehen«, befiehlt er seinen Männer, die gerade die Tür öffnen.
»Worauf wartest du noch? Ich dachte du hast er eilig«, meint er zu mir. Ich springe auf und laufe neben Daniel durch die Tür und schließlich aus dem Gebäude.
Wieder einmal folgen wir den Tunneln. »Warum hat er uns so plötzlich gehen lassen?«, frage ich Daniel.
»Du hast es geschafft. Du hast dich fast wie Max benommen. Nur schlimmer«
»Aber ich kann es nicht verstehen, stelle ich fest«
»Weißt du«, meint Daniel, »Ich dachte immer, ich wüsste über eure Welt Bescheid. Ich habe recherchiert. Ich habe alles möglich herausgefunden. Und dann passiert hier so vieles, was da gar nicht rein passt, was keinen Sinn macht und einfach nur unmöglich erscheint. Ich habe es aufgegeben, mich zu wundern. Immer wenn man meint alles verstanden zu haben, kommt etwas neues, das keinen Sinn ergibt«, er sieht mich an und macht eine kurze Pause. »Baue dir deine eigene Geschichte aus den Fakten, wie Max es immer getan hat. Suche nicht nach Fakten, sondern erschaffe deine eigenen Fakten. Das habe ich von euch gelernt. Und genau das solltest du jetzt tun. Male den Rest des Puzzles selbst, anstatt darauf zu warten, dass du die nächsten unpassenden Teile findest. Denn du wirst niemals alle Teile finden. Es wird immer Lücken geben. Diese musst du für sich selbst ausmalen. Das hat mir Max beigebracht«