Ich werfe die letzte Erde in das Loch, welches nun schon gar nicht mehr vorhanden war.
Plötzlich höre ich eine Stimme: »Kann mir jemand helfen?«.
Anna und ich drehen uns gleichzeitig zu der Stimme um. Vor uns steht ein Mann. Er ist nach nach vorne gebeugt; jeder Schritt scheint für ihn eine Qual zu sein, trotzdem kommt er langsam näher.
Ich gehe auf ihn zu und stütze ihn. »Danke«, haucht er.
Langsam gehen wir auf das Haus zu.
»Er braucht das Medikament«, stellt Anna fest und stützt ihn auf der anderes Seite. Gemeinsam betreten wir das Haus und setzten den Mann auf einen Stuhl in der Küche.
»Wir haben ein Medikament. Aber es ist nicht sicher, ob es funktioniert«, erkläre ich dem Mann. Er scheint jung zu sein und ist doch geschwächt und faltig wie ein alter Mann.
»Solange eine Chance besteht«, haucht er nur.
»Ich glaube die Tropfen mit Wasser oder doch die Salbe?«, frage ich Anna.
»Tropfen«, meint sie und verschwindet kurz, um kurz darauf mit einem Becker voller Wasser wieder zu kommen.
»Ich habe dich niemals trinken sehen«, stelle ich fest und nehme das Fläschchen in die Hand.
»Ich trinke nicht viel. Braucht man hier nicht. Es gibt nicht viel Wasser und es ist für uns nicht so notwendig. Uns reichen schon kleine Mengen«, erklärt sie mir.
Ich fülle drei Tropfen des Medikamentes in den Becher und halte ihm den Becher an den Mund. Er verschluckt sich zuerst, doch bei dem Rest geht es schon deutlich besser.
»Willst du dich nun ausruhen«, frage ich ihn und er nickt.
»Hoffen wir mal, dass er hilft«, meine ich zu Anna und sie antwortet: »Hoffentlich. Das Bett ist jetzt frei, er könnte dort schlafen«, schlägt Anna vor.
Ich nicke. »Gut«. Vorsichtig hebe ich ihn an und gehe mit ihm zusammen in den Raum. Schließlich lege ich ihn ins Bett. »Wenn irgendwas ist, melde dich bei uns. Jetzt sollst du dich zuerst einmal ausruhen«
Er nickt vorsichtig und ich decke ihn zu. »Danke«, flüstert er mir entgegen.
»Dafür bin ich hier«, antworte ich ihm.
Leise verlasse ich den Raum und gehe zurück zu Anna in die Küche.
»Wo kam er her?«, frage ich Anna und setzte mich zu ihr.
Sie zuckt mit dem Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich finde es merkwürdig, dass hier niemand anderes ist. So leer kann es eigentlich nicht sein. Vielleicht weiß er was«
»Ich bin mir sicher, dass er uns weiterhelfen wird...falls er wieder gesund wird«, meine ich zu ihr.
Sie schaut mich mit ihrem fragenden Blick an. »Was soll das denn heißen?«
»Was das heißen soll...«, beginne ich. »Das soll heißen, dass er hoffentlich wieder gesund wird«
Sie schüttelt ihren Kopf. »Nein«, es heißt was anderes.
»Ich bin mir nicht sicher, ob er wieder gesund wird«, berichte ich ihr. »Ich habe seitdem ich hier unten bin ein merkwürdiges Gefühl. Als ob irgendwas passieren wird. Ich weiß nur noch nicht, was passieren wird. Es ist nur dieses Gefühl«
»Das Gefühl kenne ich. Ich hatte ein ähnliches Gefühl«, meint Anna.
»Das Gefühl beobachtet zu werden?«, frage ich nach.
»Tatsächlich. Damals als Max und Emma gestorben sind. Ich glaube dort waren wir nicht alleine«
»Das war kein Unfall!« stelle ich fest.
»Sicher?«, will Anna wissen.
»Ich bin mir ziemlich sicher. Wie oft stürzen hier Tunnel ein?«
Anna zuckt mit dem Schultern. »Ich habe es bisher noch nie mitbekommen. Bis auf damals«
»Siehst du. Wäre ein großer Zufall. Außerdem wurden wir beobachtet. Ich bin mir sicher, dass wir dort nicht alleine waren. Ich glaube, dass unsere Beobachter etwas mit dem ›Unfall‹ zu tun haben«
»Aber wer sollte das machen und warum?«
Ich hoffe, dass ich unrecht habe. Doch ich glaube zu wissen, wer uns verfolgt hat. Dann hätten wir jedoch ein großes Problem. Es darf nicht so sein, nein.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich ihr. »Es macht alles keinen Sinn. Und was hat das damit zu tun, dass hier niemand unterwegs ist...bis auf er«
»Ich weiß es nicht«, meint sie. »Aber ich glaube wir machen uns hier nur noch verrückt. Wir sollten ihn morgen fragen. Wollen wir schlafen gehen?«, fragt sie.
Ich nicke. »Aber ich sollte mich vorher waschen«, meine ich und deute auf meine dreckige Kleidung.
»Dort ist das Bad«, meint sie. »Mach dich fertig«
Ich marschiere ins Bad uns wasche mich gründlich ab. Wahrscheinlich bin ich morgen eh wieder dreckig, aber egal.
Nachdem ich fertig bin, komme ich wieder in die Küche. Nun spüre ich die Erschöpfung und meine Augen fallen fast von alleine zu. Ich folge Anna in das leere Zimmer und lasse mich in das Bett fallen, kurz darauf bin ich bereits eingeschlafen.
***
Schreie. Ich springe aus dem Bett und bleibe stehen. Langsam schaue ich mich in dem dunklen Zimmer um. Nichts zu sehen. Nichts zu hören.
Vorsichtig verlasse ich den Raum. Wo ist Anna? Ich schleiche in ihren Raum und öffne die Tür zu ihrem Zimmer. Es ist viel zu leise. Sie ist nicht in ihrem Bett.
Was ist passiert? Ich schließe die Tür wieder hinter mir und gehe nach unten in die Küche.
Auch hier ist niemand. Aber vielleicht...ich gehe in den Raum ihres Vaters. Doch auch hier ist niemand. Anna ist weg! Der Kranke ist weg! Das bedeutet, dass das Medikament gewirkt haben muss. Doch kann er so schnell wieder gesund sein?
Irgendwas ist hier falsch, ich weiß nur noch nicht was.
Ich stürme aus dem Haus und zucke zusammen. Eine laute Stimme brüllt. »Halt! Stehenbleiben! Noch ein Schritt und wir bringen dich um!«
Ich blicke mich um. Überall stehen Menschen und starren mich an. Bewaffnet mit allem was sie finden konnten. Einige halten Steine in den Händen, andere Spaten, manche sind auf unbewaffnet. Doch alle gemeinsam haben diesen starren Blick. Keiner blinzelt, keiner bewegt sich. Alle starren mich an und warten auf eine Bewegung von mir. Sie warten darauf, dass ich einen Fehler mache, um mich abzuschlachten. Da bin ich mir sicher.
Ganz langsam fasse ich an meinen Rücken und behalte die Menschen im Blick. Obwohl ich weiß, dass ich keine Chance hätte, wenn sie mich angreifen. Mein Rucksack liegt drinnen, irgendwo auf dem Tisch. Mist! Ich bin völlig unbewaffnet.
»Wo ist Anna?«, rufe ich in die Menge.
Eine Frau tritt hervor. »Anna ist in Sicherheit. Du wirst ihr nichts tun können. Und deinen anderen Gefangenen haben wir auch in Sicherheit gebracht, falls es dich interessiert«
Ich schüttel meinen Kopf: »Nein! Er war nicht mein Gefangener. Er wollte freiwillig meine Hilfe. Ich habe ihm geholfen. Er wäre sonst gestorben«. Langsam gehe ich einen Schritt nach vorne.
»Stop!«, brüllt sie mich an. »Wir werden sich in Stücke reißen, wenn du nicht sofort stehen bleibst«
»Aber...«, beginne ich, doch ihr Blick reicht um mich zum Schweigen zu bringen.
»Du willst unser Volk vernichten. Du bist schuld an dieser Krankheit. Nun willst du den Helden spielen, damit wir dir vertrauen. Aber wir sind nicht so blöd. Wir fallen nicht auf so einfache Tricks drauf rein. Wir kennen euch. Besser als ihr denkt«
»Nein! Nein! Nein! Ich will euch wirklich helfen. Ich bin hier runter gekommen, weil ich euch helfen wollte. Ich habe sogar ein Medikament dabei. Ich habe dabei sogar eine Freundin verloren. Warum sollte ich all das tun? Ich will euch helfen, doch dafür müsst ihr mir vertrauen. Ich bin nicht wie mein Volk. Ich bin anders!«, versuche ich ihnen zu erklären, doch es funktioniert nicht. »Ich bin besser als mein Volk!«, rufe ich, doch sie glauben mir nicht. Wie sollen sie es mir auch glauben, wenn ich es mir selbst nicht einmal glauben würde. Bin ich wirklich besser? Ich bin ein Mörder. Was gibt es schlimmeres?
»Was wollt ihr von mir?«, frage ich nach.
»Alles zu seiner Zeit«, meint sie. Sie nickt und die Menschen stürmen auf mich zu. Ich bleibe stehen und schließe meine Augen. Ich warte. Darauf, dass sie mich umbringen. Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich kann nicht mehr weiter machen. Nun ist der Punkt gekommen, an dem ich verloren habe.
Doch nichts passiert. Ein paar Arme halten mich fest, sodass ich mich nicht mehr bewegen kann, doch der Schmerz bleibt aus.