Ich höre Stimmen und öffne meine Augen.
»Kommt mit«, haucht eine Stimme. Die Stimme kommt mir bekannt vor und doch kann ich sie im Dunkeln nicht einordnen.
»Warum? Was ist los?«, flüstere ich.
»Es ist hier zu gefährlich. Du musst mitkommen. An einen sicheren Ort. Du kannst hier nicht bleiben!«
Langsam stehe ich auf. Die Stimmen verlassen das Zimmer und ich folge ihnen. »Ich sage kurz Daniel Bescheid«, erkläre ich ihnen und will zu Daniel gehen.
Doch die Hände krallen sich in meine Arme und halten mich fest. »Du gehst nicht zu ihm!«, befiehlt die Stimme. Noch immer kann ich mich nicht erinnern, wer das ist. Namen und Gesichter konnte ich mir noch nie gut merken. Und jetzt ist so viel passiert...aber ich kann ja nicht fragen, wer das alles ist. Schließlich ist das hier mein Volk.
»Aber ich muss!«, erkläre ich etwas lauter. »Ich kann ihn nicht hier lassen. Es ist zu gefährlich. Das habt ihr selbst gesagt. Er hat mich gerettet. Ich muss ihm helfen!«
»Anna«, meint die Stimme ruhig. »Er ist der Feind. Er will, dass du ihm vertraust. Wenn wir ihm erst einmal vertrauen, dann hat sein Volk die Macht über uns. Sie werden uns vernichten. Wie damals. Es sind alles Monster und Mörder. Er benutzt dich nur«
»Nein!«, rufe ich. »Er ist besser!«
»Bist du dir sicher? Kannst du dafür garantieren, dass er kein Mörder ist? Alle dort Mörder. Ich weiß, dass er auch ein Mörder ist. Oder kannst du das Gegenteil beweisen?«
Ich schweige, denn sie haben recht. Daniel ist ein Mörder. Das hat er mir selbst gesagt. Doch will er mir wirklich helfen? Oder will er tatsächlich nur mein Vertrauen erschleichen? Was wenn sie recht haben? Wenn ich ihm ihm helfe, mein Volk zu vernichten. Er hat bereits getötet, wieso kann ich mir sicher sein, dass er es nicht wieder tut?
Sie ziehen mich weg, aus dem Haus. Ich wehre mich, will zu Daniel rennen. Will ihn sehen. Ich muss es ihn fragen. Ich muss es von ihm selbst hören. Doch würde er mir die Wahrheit sagen, wenn ich ihn fragen würde? Wahrscheinlich nicht. Und doch muss ich ihn fragen.
»Lasst mich!«, schreie ich, doch sie lassen mich nicht. Warum auch? Sie sind davon überzeugt, dass er der Feind ist. Warum fällt es mir so schwer? Ich muss mich entscheiden, doch ich kann es nicht.
Sie tragen mich gemeinsam nach draußen und ich höre auf mich zu wehren. Vielleicht...was wäre wenn sie recht haben? Wenn ich die Wahrheit nicht sehen kann?
Überall stehen Menschen. Alles ist voller Menschen. Es haben doch mehr überlebt, als gedacht. Alle sind bewaffnet, nur wegen einer Person.
Ist er gefährlicher, als ich dachte?
Sie bringen mich in ein anderes Haus und legen mich auf ein Bett. »Bleib erst einmal hier, bis sich die Lage geklärt hat. Zu deiner eigenen Sicherheit. Schon verschwinden sie und schließen die Tür hinter.
Warum stehen dort so viele Menschen vor dem Haus? Sind wirklich so viele Menschen notwendig? Ich erinnere mich an die alten Geschichten. Nur wenige von uns gegen viel zu viele andere Menschen. Alle bewaffnet. Unsere hingegen waren völlig wehrlos.
Jetzt so viele bewaffnete Menschen. Alle bewaffnet. Daniel alleine und unbewaffnet. Ist das richtig? Ich habe ihren Blick gesehen, ihre Entschlossenheit.
Wissen sie vielleicht mehr als ich? Sie haben sich die ganze Zeit versteckt. Vielleicht haben sie ihn beobachtet. Vielleicht kann ich die Wahrheit nicht sehen. Ich habe immer gehofft. Ich habe gehofft, jemanden zu finden, der mir helfen kann. Aber war das nicht ein ziemlich großer Zufall, wie wir Emma und Daniel gefunden haben. Daniel wusste sofort was zu tun ist, er kannte sich viel zu gut mit unserer Welt aus. Woher hatte er das ganze Wissen?
Während des Weges, hat er viel zu oft seltsame Fragen gestellt. Warum hat ihn all das interessiert?
Ist er vielleicht doch nicht so anders, wie unser Volk? Will er sich mein Vertrauen erschleichen?
Aber alleine? Und warum ist Emma dann gestorben?
Emma und Max beide dort unter der Felsen begraben. Vorher hat Daniel mit Max so lange geredet.
Worüber haben sie geredet? Hat Daniel Max vielleicht absichtlich sterben lassen? Emma als Köder. Ich habe sie nicht sterben sehen. Vielleicht war das alles geplant.
Die Steine könnten von anderen aus seinem Volk herunter gestoßen sein. Absichtlich. Daniel hat selbst erzählt, dass es ein Unfall war. Dass wir verfolgt werden.
Das macht doch alles keinen Sinn! Warum sollte er es mir sagen?
Oder vielleicht...wenn er damit mein Vertrauen gewinnen wollte. Ich kann nichts gegen diese Menschen tun. Zumindest nicht, wenn ich ihm nicht vertrauen würde. Wenn jemand die Schwächen dieser Menschen kennen würde, dann er. Doch wenn ich vertraue, hat er die Macht über mich und mein Volk.
Wäre Max noch hier...er wüsste was zu tun ist. Tränen tropfen auf das Kissen.
Wusste Daniel vielleicht, dass Max seinen Plan durchkreuzen könnte und eine Lösung finden würde? Hat er vielleicht deshalb dafür gesorgt, dass Max gestorben ist?
Sind sie vielleicht sogar an der Krankheit schuld?
War all das genauso geplant und ich habe dafür gesorgt, dass der Plan funktionieren kann? Alles was ich gemacht habe, war so berechenbar. Wenn sich Daniel so gut mit unserer Welt auskannte, wusste er auch darüber Bescheid?
Ich stehe auf und gehe zur Tür. In meinen Kopf dreht sich alles, doch ich muss für Klarheit sorgen. Die Tür ist abgeschlossen, doch ich nehme einen Stuhl und schlage so lange auf die Tür ein, bis Stuhl und Tür nur noch Trümmer ist.
Ich bin mir sicher, dass ich gerade genau das falsche tue, aber ich laufe trotzdem zu meinem Haus. Aus der Ferne sehe ich, wie sie Daniel festhalten und kurz darauf wegtragen. Er wehrt sich nicht einmal. Ist er sich so sicher? Oder hat er vielleicht doch schon aufgegeben. Doch warum sollte er aufgeben? Es ist doch sinnlos. Die Angst vor dem Feind ist schlimmer, als der Feind selbst, hallt die Stimme der Göttin in meinem Kopf wieder. Es schien, als wüsste sie, dass er einer von den guten ist. Oder war es Max? Es ist viel zu lange her, die Erinnerungen verschwimmen viel zu sehr. Aber sie meinte doch Daniel oder? Was soll sie sonst damit gemeint haben? Max hätte ihr Andeutungen alle verstanden und ich...ich verstehe mal wieder alles nicht. Warum muss es so kompliziert sein?
Vorsichtig folge ich dem Trupp. Immer weiter durch die Höhlen. Wo bringen sie ihn hin?
Hier ist doch nichts. Nichts außer leere Tunnel. Oder doch.
Ganz früher war ich hier manchmal mit Max. Ich weiß, wo sie ihn hinbringen werden.
Ich werde langsamer, damit sie mich nicht sehen und folge ihren Stimmen. Ich wusste früher nie, wofür dieser Raum und das Gitter da sind. Wir haben gespielt, dass wir dort unsere Unsichtbaren Feinde eingesperrt haben. Denn das Gitter eignete sich perfekt dafür. Zumachen und den Haken vor. Von innen bekommt man es nicht auf. Wenn wir dann auch noch das Schloss zugemacht und den Schlüssel mitgenommen haben...doch irgendwann war der Schlüssel weg und wir haben das Schloss aufgelassen, schließlich wollten wir die Tür wieder öffnen können, falls wir weitere Gefangene haben...das war in einer ganz anderen Welt. Da waren wir noch klein. Da waren unsere einzigen Sorgen noch, dass dieses Tor offen bleibt und all unserer unsichtbaren Gefangenen abhauen werden.
Ich setzte mich hinter einen Felsen und hoffe, dass mich niemand sieht, wenn sie zurück gehen. Sie werden nicht ewig hier bleiben. Ich muss wenigsten ein letztes Mal mit Daniel reden. Wenigstens einmal.