Ich stehe in der Tür und sehe wie Anna auf dem Bett ihres Vaters sitzt. Die beiden unterhalten sich einige Zeit und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wäre es richtig dort jetzt rein zu gehen? Ich will sie nicht stören, deshalb bleibe ich stehen. Was soll ich auch sonst tun?
Auf einmal brüllt Anna laut, dass er nicht sterben darf. Kann ich ihm helfen? Bevor ich darüber nachdenken kann, herrscht wieder Stille und Anna beugt sich über ihren Vater. Vorsichtig entschließe ich mich doch näher ran zu gehen.
Anna starrt still ihren Vater an, doch er rührt sich nicht mehr. Es ist zu spät. Kurz vor dem Bett bleibe ich stehen. Einige Zeit vergeht, ohne das etwas passiert. Dann plötzlich legt sich Anna neben ihrem Vater in das Bett und ist Sekunden später eingeschlafen. Wie sie dort liegen. Beide scheinen zu schlafen. So friedlich. Wenn ich nicht wüsste, dass er nie wieder aufwachen wird. Wenn ich das nicht wissen würde, dann würde ich mich freuen. Mich freuen, über die enge Verbindung zu ihrem Vater. Mich über diesen Frieden freuen. Die Stille wäre angenehm, das Licht würde den ganzen Raum ausleuchten, ohne hell zu sein. Ich wäre glücklich.
Doch ich bin es nicht. Es ist viel zu Dunkel. Ich kann sehen und trotzdem sind es zu viele Schatten, die durch den Raum huschen. Die Stille ist unangenehm, am liebsten würde ich schreien, nur um die Stille zu durchbrechen. Doch ich bleibe Still. Ich habe Angst. Angst davor, was passieren würde, wenn die Stille verschwindet.
Vorsichtig nehme ich die Decke und decke Anna damit zu. Rückwärts schleiche ich mich durch den Raum, doch ich ich hätte auch rennen können. Ich bin mir sicher, dass Anna davon nicht aufgewacht wäre.
Ich setze mich in die Küche auf einen Stuhl und lege meinen Rucksack auf den Tisch. Ich hole die verschiedenen Packungen heraus. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, sie mir näher anzusehen. Die verschiedenen Namen, sagten mir nichts. Drei weiße Packungen mit verschiedenen Namen.
Ich öffne die erste Packung und hole ein Fläschchen heraus und stelle es auf den Tisch. Vorsichtig entfalte ich den riesigen Zettel. So viele Nebenwirkungen, die dieses Medikament haben kann. Egal. Das lässt sich nicht ändern.
2-3 Tropfen in ein Glas geben, mit Wasser vermengen und einnehmen, lese ich auf dem Zettel. Ich habe Anna bisher noch nie was trinken gesehen, Max auch nicht. Vielleicht ist das nicht das beste Methode. Ich nehme die zweite Packung in die Hand. Sie ist deutlich leichter. Ich öffne sie und zwei Blister mit Tabletten kommen zum Vorschein. Ich lege zur dem Fläschchen und schaue mir den Zettel an. Schon wieder so viele Nebenwirkungen. Mit ausreichend Flüssigkeit einnehmen.
Wasser sollte ihnen doch eigentlich nicht schaden. Sie haben vielleicht nur nichts getrunken, weil sie nichts hatten. Sonst hätten sie bestimmt auch was getrunken.
Aber wir haben ja noch die dritte Packung. Ich öffne auch diese und eine Tube fällt heraus. Eine Creme. Das könnte es sein. Ich schnappe mir den Zettel und falte ihn auseinander. Erneut unheimlich viele Nebenwirkungen.
Warum haben all die Medikamente so viele Nebenwirkungen? Ist es vielleicht sogar Absicht, dass man ein weiteres Medikament kauft? Schließlich lässt sich damit so viel Geld verdienen. Soll man davon Abhängig werden und Nebenwirkungen bekommen? Ist die Gesellschaft wirklich so schlimm geworden? So egoistisch?
Ich erinnere mich an die ganzen Menschen, die einander niemals zu beachten schienen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen. Der Krieg. Wie konnten die Menschen später noch vernünftig leben? Es verändert dich. Es macht dich kaputt. Du kannst keine Menschen umbringen, ohne das es dich verändert.
Plötzlich schwirrt ein Spruch durch meine Gedanken: ›Du kannst Feinde töten, doch niemals Menschen‹. Es stimmt. Es hat mich kaputt gemacht damals. Weil sie Menschen wären. Doch wenn ich mir oft genug gesagt hätte, dass es Feinde sind, dann hätte ich vergessen, dass sie Menschen sind. Vielleicht ist das der Trick dabei.
Doch es ist falsch. Ich bin ein Mörder! Ich kann es nicht schönreden. Nicht rechtfertigen. Nicht einmal vor mir selbst. Es wäre ihnen gegenüber ein Verrat. Ich würde sie ein weiteres Mal verraten. Das ist falsch. Es ist alles falsch. Alles.
Anna hat nie etwas von alledem erzählt. Niemals von solchen Problemen. Gibt es hier überhaupt Geld? Es scheint doch irgendwie zu funktionieren. Mehr oder weniger. Aber wie?
Und warum sitze ich hier eigentlich rum? Ich habe noch keinen aus diesem Dorf gesehen und mache mir hier Gedanken. Ich warte auf ein Wunder. Ich warte darauf, dass sich von jetzt auf gleich was verändert. Aber was soll hier plötzlich ändern, wenn ich nichts ändere?
Ich schnappe mir die Salbe und stecke sie in meine Hosentasche. Den Rest lasse ich liegen und gehe zurück ins Schlafzimmer. Wie die beiden dort liegen. So friedlich.
Vorsichtig gehe ich wieder zurück in den Flur und starre die Tür rechts von mir an. Sie sieht so anders aus. Alle anderen sind braun, diese eher rötlich. Warum?
Ich öffne die Tür und entdecke einen kleinen Raum voller Werkzeuge aller Art. Einige davon sind mir unbekannt, doch ich entdecke eine ganze Reihe von unterschiedlichen Spaten. Spaten. Das ist es! Ich schappe mir zwei verschiedene Spaten und verlasse mit ihnen das Haus. Wobei ist verlassen richtig? Schließlich bin ich noch immer unter der Erde.
Ich laufe um das Haus herum, soweit es geht. Kurz bevor das Haus im Stein verschwindet, bleibe ich stehen. Ich lege den einen Spaten beiseite und ramme den anderen, kleineren in den Boden. Doch der Spaten sinkt nur wenige Zentimeter tief in den Boden. Mit meinem ganzen Gewicht versuche ich den Spaten tiefer in den Boden zu drücken. Zentimeter für Zentimeter sind er tiefer in den Boden. Ich stemme den Boden heraus und werfe die Erde zur Seite. Wieder ramme ich den Spaten in den Boden. Immer und immer wieder.
Es ist anstrengend, aber es lenkt mich ab. Meine Kleidung ist durchgeschwitzt und dreckig, doch ich mache immer weiter. Ich grabe immer tiefer, muss die Erde immer höher werfen. Doch ich grabe weiter, denn ich habe mein Ziel noch lange nicht erreicht. Das Loch wächst immer weiter heran, meine Kleidung wird immer nasser und dreckiger. Doch ich grabe weiter. Immer weiter. Bis ich mein Ziel erreiche.