Ein Tosen ertönt. Steine fallen von oben. Ich will zu Emma rennen, doch Anna zieht mich zurück. Ein riesiger Stein landet nur wenige Zentimeter vor meinen Füßen.
Doch es ist als wäre das alles hinter einer dicken Scheibe. Als hätte ich damit nichts zu tun.
»Ich muss da hin!«, brülle ich Anna an und reiße mich los. Doch der Felsen versperrt mir den Weg. Leise schreie durchdringen den Lärm hinter dem Felsbrocken.
Das ist Emma. Ich versuche auf den Stein zu klettern, doch ich schaffe es nicht. Emma ist dahinter.
»Emma. Emma«, ich schreie immer wieder ihren Namen.
Ich höre wie Anna nach Max schreit, doch ich nehme es fast gar nicht wahr.
Meine Finger schmerzen, als ich versuche mich hoch zu ziehen, doch ich lasse nicht los. Zentimeter für Zentimeter schiebe ich mich hoch. Meine Arme beginnen zu brennen, meine Beine rutschen über den rauen Stein.
Endlich stehe ich auf dem Felsen und schaue ins Nichts. Der Weg ist viele Meter kürzer, endet kurz hinter dem Felsen. Dahinter leere. Emma weg. Max weg. Ist es meine Schuld, dass Max tot ist? Es ist meine Schuld. Wegen mir ist Max weggelaufen. Wegen mir hat Emma Max gesucht. Wegen mir waren sie hier und sind nun tot.
»Was ist da?«, ruft Anna zu mir hoch.
Als wäre es nicht mein Körper, bewege ich mich zurück und springe den Felsen wieder herunter.
»Was ist passiert?«, fragt Anna wieder.
Ich schaue sie an. Sehe die Angst in ihren Augen. Die Furcht vor der Wahrheit.
»Die beiden sind...«, versuche ich ihr zu erklären, schaffe es aber nicht.
»Sind sie Tod?«, die Furcht in ihren Augen wächst immer weiter. Ich nicke nur.
Ganz leise erkläre ich ihr: »Ich bin schuld«
Ich spüre, wie sie mich umarmt. »Du bist nicht schuld«
Ich schüttel den Kopf und reiße mich weg. »Nein. Ich bin schuld. Ich hatte Streit mit Max. Er hatte Recht. Ich bin nicht besser. Deshalb lief er weg. Emma wollte ihn nur suchen. Und jetzt?«
Sie schüttelt ihren Kopf und nimmt mich wieder in den Arm. »Du bist nicht schuld. Keiner ist schuld daran. Niemand kann etwas dafür. Ich dachte schon einmal ihn verloren zu haben...so oft. Ich bin nur hier, weil ich geschworen habe, ihn zu Beschützen«, sie fängt an zu schluchzen und ich umarme sie.
»Du konntest nichts machen«, flüstere ich zu. »Unmöglich«
Sie nickt. »Siehst du. Du konntest auch nichts tun. Du bist nicht schuld. Es war seine Entscheidung den Weg zu gehen und er wusste, dass er sterben könnte. Es wusste es. Die Ratten«
»Welche Ratten?«, frage ich sie.
»Na die Ratten, die Max immer gefangen hat. Immer eine Ratte. Er hat mir dann immer erklärt, dass es immer nur eine Ratte schaffen würde zu fliehen, die zweite wird immer gefangen. Und er ist die zweite Ratte«
»Das hat er erzählt?«, stelle ich verwundert fest. »Mir hat er erzählt, dass die Sonne eine besondere Person sei. Sie wacht die ganzen Tag über dich und in der Nacht sammelt die neue Energie, indem sie deine Geschichte den Sternen erzählt, die dann immer wieder einen Blick auf dich werfen. Und das jeder Sterne eine verstorbene Person sei, die stolz herunter blickt«
»Woher wusste er das das alles?«, fragt mich Anna. »Wir waren nur kurz im Himmel, doch da war er Bewusstlos. Und nun ist er wieder da. Trotzdem er wird nicht meine Sonne sein, schließlich gibt es hier unten keine Sonne. So wie ich ihn kenne, wird er das Leuchten der Wände sein«, erklärt sie voller Hoffnung.
Tatsächlich strahlen die Wände ein sanftes Licht aus. Warum ist mir das bisher nicht aufgefallen?
»Ihr wart im Himmel?«
»Lange Geschichte«, meint sie. »Worum ging es eigentlich in eurem Streit?«, fragt sie nach.
»Max war eine besondere Person«, versuche ich auszuweichen, doch sie geht einen Schritt zurück und sieht mich fragend an.
»Ich weiß nicht, ob es richtig ist, das jetzt zu erzählen«, beginne ich vorsichtig, doch Anna nickt nur.
»Er ist mein Bruder«, meint sie und fügt leise hinzu: »War«
»Also. Max und ich wir verstanden uns ziemlich gut. Ich war begeistert von seiner Art. Er hatte etwas besonders und ist mir immer besonders begegnet. Doch als ihr weg wart, erzählte er es mir. Wir waren alleine. Plötzlich erzählte er mir, dass er mich liebt. Ich war geschockt. Ich meine wie kann er mich lieben? Er kennt mich nicht einmal« - »Doch manchmal spürt man dieses Gefühl, obwohl man diese Person noch nicht wirklich kennt«, unterbricht Anna mich.
»Meinst du? Jedenfalls bin ich ja mit Emma zusammen...gewesen. Und bei uns ist es nicht so richtig, das gleiche Geschlecht zu lieben. Max hat es natürlich hart getroffen. Er meinte zu mir, dass ich nicht besser sei, als die anderen und es stimmt: Ich könnte es nicht. Selbst, wenn ich nicht mit Emma zusammen gewesen wäre. Du kennst Max und gerade das hat ihn getroffen. Ich glaube nicht einmal, dass ich ihn nicht liebe, sondern warum ich ihn nicht liebe«
Anna nickt ganz leicht. »Das hat ihn wohl wirklich mehr getroffen. Aber du kannst nichts für die Vorteile deiner Welt. Und ich muss ehrlich sagen, dass es das bei uns gar nicht so gibt. Liebe, Gefühle...wir haben wenig Zeit dafür. Das Leben bereitet genug Sorgen, dass man sich darüber Gedanken machen könnte oder sollte. Ich glaube bei uns ist es auch nicht wirklich gut angesehen. Aber Max ist da ein bisschen anders«
Ich nicke. »Wenn alle so wären, dann wäre die Welt deutlich besser. Aber das Problem ist: Wie soll man lernen so zu sein, wenn alle einem immer etwas anderes beibringen?«
»Er wird uns jetzt zusehen. Und Emma auch. Beide zusammen. Wir sollten sie nun stolz machen, indem wir es zu Ende bringen. Wenn du noch willst. Sonst gehe ich alleine«, erklärt Anna mir.
»Natürlich komme ich mit«. Ich schaue zu dem Felsen. »Haben wir eigentlich das Medikament? Irgendwie habe ich das ein wenig verpasst«, gebe ich zu.
»Ist in deinem Rucksack«, stellt Anna fest.
Ich habe den Rucksack völlig vergessen. Ich nehme ihn vom Rücken und öffne ihn. Tatsächlich liegen mehre Packungen drin. Ich nehme eines heraus. »Das könnte das richtige sein«, stelle ich fest. Aber das müssen wir wohl ausprobieren«
»Wollen wir uns noch von ihnen verabschieden?«, fragt mich Anna.
Ich nicke. »Ich habe tatsächlich eine Idee«, erkläre ich ihr und krame in meinem Rucksack. Irgendwo muss es doch sein!
»Das ist schon merkwürdig: Wenn du die Anzahl aller Tage an denen du gestorben bist, mit der Anzahl aller Tage die du nicht gestorben bist verrechnest, dann ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben sehr gering, sie sinkt sogar jeden Tag ein bisschen mehr. Und trotzdem sind heute zwei Menschen gleichzeitig gestorben«
Verwirrt blicke ich sie an. »Ist das von Max?«
Endlich habe ich es gefunden. Ich zeige ihr das Messer.
»Was willst du mit einem Messer?«, jetzt ist sie verwirrt.
»Wir schreiben letzte Worte in den Stein«, erkläre ich.
»Und das soll funktionieren?«
Ich zucke mit den Schultern. »Einfach so?«
»Und was willst du schreiben? Soll ich es dir sagen?«, fragt sie nach.
Ich nicke. »Das wäre am besten«
»Ich versuche es mal. Schließlich meinte Max, dass dies meine Geschichte sei«
»Was für eine Geschichte. Verstehe ich nicht. Aber egal. Bitte langsam, damit ich mitschreiben kann«, erkläre ich.
»Hier Ruhen Emma und Max«, beginnt sie zu diktieren und ich ritzte es in den Stein.
»beide immer Lebensfroh und zu jung zum Sterben. Doch auch wenn die Wahrscheinlichkeit zu sterben ziemlich gering ist, hat zumindest Max es geschafft gleich zwei Mal zu sterben. Dabei war sein Motto: ›‹Wenn du die Anzahl aller Tage an denen du gestorben bist, mit der Anzahl aller Tage die du nicht gestorben bist verrechnest, dann ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben sehr gering, sie sinkt sogar jeden Tag ein bisschen mehr‹ Er riskierte alles, nur um Hilfe bei seinen Feinden zu suchen. Schließlich traf er auf Emma, eine vom feindlichen Volk. Doch sie wollte ihm helfen. Nun liegen beide hier. Gestorben, um anderen vielleicht helfen zu können. Gestorben durch einen Unfall, mit dem niemand rechnen konnte. Aus dem Nichts erschlagen. Doch die Angst vor dem Feind ist stärker, als der Feind selbst.
Nun blicken beide zusammen herab, Max erzählt jeden Abend unsere Geschichte. Denn sie sind stolz darauf zu sehen, was aus ihrem Werk wird. Was aus dem Werk passiert, welches sie in den Tod riss.
In Stillen Gedenken an Emma und Max und all die anderen die von uns gegangen sind und uns nun zusehen«
Ich schreibe das letzte Wort auf und gehe einen Schritt zurück. »Ein schöner Text. Ein würdiger Text«, stelle ich fest. »Aber nun lass uns weiter gehen«
Anna nickt und ich packe das Messer wieder weg. Ich nehme den Rucksack wieder auf den Rücken und wir gehen still los. Wir beide schauen noch mehrmals zurück, bleiben aber nicht stehen. Schweigend gehen wir weiter. Jeder in seinen Erinnerungen und Gedanken versunken.