We're all mad here:
Sie standen in der großen Halle. Auf einer Seite lagen Empfangsschalter, hinter deren geborstenen Glasfenstern Dunkelheit lauerte. Auf der anderen Seite war ein Wartebereich gewesen, nun waren die Bänke umgeworfen, die Bilder von den Wänden gerissen und ein großer Kaffeeautomat in seine Einzelteile zerlegt.
Gegenüber von der Eingangstür gab es eine große Doppeltür, die ins Innere führte, aber auch zwei geschwungene Treppen, die in den nächsten Stock gingen. Und im zweiten Stockwerk verlief eine dunkle Galerie, die nicht einzusehen war. Die Decke war kaputt, es regnete herein.
„Ich will nicht hier sein“, murmelte Kassandra leise.
„Ich auch nicht“, sagte Mo und trat neben sie. Er streifte ihren Arm und sie ergriff seine Hand. Im Dunkeln lächelte er ihr zu. „Aber wir sind nun einmal hier, also können wir genauso gut versuchen, einen Weg zurück in zivilisierte Gegenden zu finden.“
Er stockte kurz, denn in seiner Handfläche fühlte er eine beunruhigende Leere dort, wo einmal Kassies kleiner Finger gewesen war. Im nächsten Moment stieg Wut in ihm auf. Es war ungerecht, dass sie nun schon zum dritten Mal die Tour machen mussten!
Ein schwaches Licht glomm auf, ausgehend von dem Enthinderer. Blaze lenkte den tastenden Lichtfinger durch die Schwärze und sie konnten das verzogene Holz alter Möbel und einige zerrissene Stofffetzen auf dem Boden erkennen. Und traf auf ein unpassend sauberes, hellgelbes Paket, das direkt hinter der Eingangstür auf dem Boden stand.
„Was ist das?“, fragte Kassie und kam vorsichtig näher.
Mo folgte ihr. „Eine Falle?“ Er warf einen Blick auf den Absender und grinste. „He, das ist an uns adressiert.“
„Und das ist gut?“, entfuhr es Kassie entgeistert.
Mo hob das Paket mit leisem Ächzen auf und hielt es ihr hin. „Guck auf den Absender.“
Ein Lächeln machte sich auf Kassies Gesicht breit. „Sam!“
Sofort riss sie die Verpackung auf und brachte eine zweite Pistole und mehrere Pakete Munition zum Vorschein. Und einen Brief: „Wir beeilen uns. Haltet durch.“
Kassie lud ihre Pistolen nach und fand einige größere Munition, die sie Blaze reichte. Der Junge lud nun ebenfalls den Enthinderer nach, indem er die Geschosse in zwei Klappen in den Lehnen des Rollstuhls füllte. Er war gerade fertig, als Kassie zusammenfuhr.
„Hast du das gehört?“
„Nein“, Mo hielt inne und lauschte. Dann hörte er es: Ein fernes Kichern, das hysterische Gelächter eines Irren. Beklommen sah er Kassie an. „Beeilen wir uns besser!“
Gefolgt von Blaze durchquerten sie die große Eingangshalle und hielten am Fuß einer Treppe an. Kassie zögerte einen Moment und trat dann auf die oberste Stufe.
„Was hast du vor?“, flüsterte Mo.
„Der beste Weg wäre, im Erdgeschoss zu bleiben, richtig?“, antwortete Kassie flüsternd. „Das wäre für uns der kürzeste Weg, auf dem wir mit den wenigsten Hindernissen rechnen müssten.“
„Ja. Warum gehst du dann nach oben?“, fragte Mo.
„Du willst sie täuschen!“, rief Blaze leise auf und grinste.
Kassie nickte, obwohl sie das Lächeln des Jüngeren nicht erwiderte. „Tun wir das, was sie nicht von uns erwarten. Vielleicht verbessert das unsere Chancen.“
Mo nickte und folgte Kassie in das obere Stockwerk, auf die in Schatten gehüllte Galerie hinauf. Hinter ihm ächzte Blaze' Rollstuhl leise, als der Enthinderer die Stufen emporstieg.
Das oberste Stockwerk war nicht wirklich ermutigender, doch Kassie ging jetzt zügig voran und Blaze und Mo folgten ihr, so leise sie konnten. Die Mechanik des Enthinderers schien ein besonders geräuschintensives Eigenleben zu entwickeln, die Pumpen zischten und die kleinen Rädchen quietschten.
Mo merkte, dass er zu keuchen begann. Die Luft wurde immer stickiger, je weiter sie sich von dem eingestürzten Dach entfernten. Nachdem sie um ein paar Ecken gebogen waren und zwei große Doppeltüren durchquert hatten, roch die Luft abgestanden wie in einer Gruft.
Dafür wurden die Geräusche um sie her unmerklich lauter: Das Gelächter, fernes Schreien und unverständliche Wortfetzen sickerten aus den Wänden wie vergorener Honig. Mo spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
Kassie hielt an. Mo wäre beinahe in sie hinein gerannt.
„Was ist?“, zischte er gereizt – die Atmosphäre schlug ihm auf die Nerven – aber noch im gleichen Moment erkannte er, dass sie an einer Kreuzung angelangt waren.
Geradeaus lag ein breiter, offener Gang, der sie wohl mitten durch das Irrenhaus und bis zur anderen Seite führen würde. Die beiden Gänge zur Seite waren schmaler und auch dunkler, denn der breite Gang wurde von mehreren Notausgangsschildern beleuchtet.
„Ich würde am liebsten außen rum gehen“, flüsterte Kassie leise. „Aber wir können nicht wissen, ob die seitlichen Gänge auch bis zur anderen Seite durchgehen. Vielleicht sind es nur kurze Flure und sie enden bald.“
Mo starrte zweifelnd auf den großen Gang, der ihm jetzt wie ein großes, klaffendes Maul erschien.
„Lass uns einen der Seitengänge versuchen“, antwortete er flüsternd.
Ehe Kassie antworten konnte, ertönte ein tiefes Grollen. Sie fuhren zusammen, doch das Geräusch stammte nur von den schwarzen Wölfen. Die großen Tiere zogen einen Kreis um Blaze zusammen.
„Blaze!“, rief Kassie entsetzt und vergaß halb, ihre Stimme zu dämpfen.
„Es … es ist gut!“, sagte der bleiche Rollstuhlfahrer leise. „Ich habe keine Angst.“
Seine Stimme zitterte, aber noch während er sprach, wurde sie fester: „Ich habe etwas gehört. Hinter uns.“
Mo öffnete den Mund, um etwas zu sagen oder zu fragen – aber ehe sein Gehirn ihm Worte eingeben konnte, sah er einen Schatten aus dem Gang hinter ihnen stürzen, eine menschengroße Gestalt, deren Gesicht sogar in dem blassen Licht nicht mit dem eines Menschen verwechselt werden konnte: Es war eine bleich schimmernde, verzerrte Clownsmaske.
Die Gestalt verfiel in schrilles Kichern und stürzte sich auf Blaze.
„Blaze!“, schrie Kassie und machte einen Schritt nach vorne, da rollte der Enthinderer plötzlich direkt auf sie zu, den Clown dabei abwerfend. Mo erhaschte einen kurzen Blick auf Blaze' vor Entsetzen verzerrtes Gesicht. Kassie sprang mit einem Schrei beiseite, als der Enthinderer zwischen ihnen hindurch schoss, gefolgt von den sieben Wölfen.
„Blaze!“, brüllten Mo und Kassie jetzt aus vollen Lungen und machten sich an die Verfolgung – doch der Clown war ihnen lachend auf den Fersen. Er warf sich nach vorne und bekam Mos Knöchel zu packen, Mo schlug hart auf den weißen Boden auf.
Er drehte sich um und trat nach der Maske, die ihn irre angrinste und immer näher kam, als der Clown sich an Mos Bein nach oben hangelte.
„Verschwinde!“, kreischte Mo. „Lass mich in Ruhe!“
Er traf die Maske, die unter dem Tritt zersplitterte. Ein Heulen ertönte und der Clown ließ Mo los. Schon packten ihn neue Hände und zerrten ihn nach oben. Mo schlug um sich.
„Hey, ich bin's!“, rief Kassie. „Komm schon!“
Tatsächlich war sie es gewesen, die Mo auf die Beine geholfen hatte. Nun rannte Kassie voraus und Mo folgte ihr auf den Fuß.
Der Enthinderer aber war nicht mehr zu sehen.