Imagination:
Milo erwachte, als die Gruppe zu ihm zurückkehrte. Ungläubig starrte er die gläserne Form von Evelyn an und wäre wohl an ihre Seite gerannt, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre. So musste er warten, bis der Glasgeist sich an seine Seite setzte. Ungläubig strich er über ihr Gesicht: „Bist du … real?“
Blaze beobachtete das Geschehen und wandte sich dann ab. Er verspürte einen seltsamen Stich im Innersten, nicht, weil er den Freunden ihr Widersehen missgönnte. Nein, der Schmerz schlummerte schon länger in seinem Herzen. Etwas im Reich der Toten hatte ihn geweckt. Doch erst jetzt fand Blaze die Zeit, darüber nachzudenken.
Er suchte sich einen Platz abseits von seinen Freunden und sah zwischen den spärlichen Bäumen hindurch auf den Sternenhimmel und das hügelige Land im Mondlicht. Ein Stück unter ihm schien goldgelbes Licht: Dort mussten Hütten sein, ein Dorf. Das Licht strahlte gedämpft aus verhängten Fenstern. Es sah gemütlich und einladend aus, doch ihre Gruppe war zu müde, um heute noch eine Wanderung auf sich zu nehmen. Die Dunkelheit mochte über die Entfernung hinwegtäuschen, vermutlich war es ein ganzes Stück bis zum Dorf, das in einer Talsenke liegen musste. Blaze fröstelte, obwohl die Luft eigentlich angenehm warm war. Er fühlte sich so verloren und verlassen … was stimmte nicht mit ihm?
„Alles in Ordnung?“
Elizabeth war zu ihm getreten. Blaze schloss einen Moment die Augen. „Ja, alles klar“, antwortete er.
Die braunhaarige Wächterin blieb neben ihm stehen. „Sei bitte ehrlich, Blaze. Das heißt, so lange du darüber sprechen willst.“
Er war sprachlos. Er war ein so guter Lügner geworden, dass ihn nur noch die wenigsten durchschauten – er konnte seine eigenen Eltern überzeugend belügen. Blaze sah zu der Dunkelhaarigen auf. „Ich … ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“
Ihr rücksichtsvolles Angebot hatte eine Barrikade gelöst, trotzdem fiel es ihm ungemein schwer, ehrlich und offen zu sein. Was sollte er ihr auch sagen?
„Du fühlst dich nicht gut?“, fragte Elizabeth nach, die ihn aufmerksam musterte und trotz der Dunkelheit genug zu erkennen schien.
„Irgendwas muss passiert sein“, murmelte Blaze. „Ich weiß es nur nicht mehr. Ich bin … aufgewühlt. Aber ich weiß nicht, warum.“
„Du hast viel erlebt“, sagte Elizabeth. „Furchtbares gesehen. Diese Tour zweimal zu bewältigen, die Tortur zweimal zu überleben, das verändert dich.“
Blaze nickte. Dann schüttelte er den Kopf. „Es ist etwas Anderes. Ich kann es nicht beschreiben. Wie ein Gedanke, den man fassen will, aber einfach nicht erwischt.“
Er merkte, wie Elizabeth ihn aufmerksamer musterte. „Seit wann hast du dieses Gefühl?“
„Seit dem Festessen im Totenreich“, murmelte Blaze kleinlaut.
Elizabeth runzelte die Stirn. „Walhalla? Der Ort, wo wir ständig alles vergessen haben?“
Blaze nickte. „Aber Kassie hatte mich etwas gefragt … sie hat mich gefragt, ob ich meine Eltern vermisse und natürlich vermisse ich sie aber … aber …“
Er wusste nicht, wie er weiterreden sollte. Er spürte Elizabeths Blick auf sich und hörte, wie sie „Scheiße!“ hauchte.
Er sah auf.
„Wer sind deine Eltern?“, fragte Elizabeth.
„Ich … ich erinnere mich nicht mehr genau“, gab Blaze leise zu. „Ich meine, ich kenne ihre Gesichter und eigentlich weiß ich alles über sie. Aber ihre Namen … ihre Namen sind … ich weiß es nicht!“
„Heilige Scheiße“, wiederholte Elizabeth. „Woran erinnerst du dich sonst noch nicht?“
Blaze wollte ihr sagen, dass er das wohl kaum beurteilen konnte, doch er stockte. Irgendwie rief Elizabeths Frage genau die Antworten hervor, die er ihr geben musste. „Ich weiß noch, wie sich unser Wohnzimmer anfühlt … ich erinnere mich an den Brief der Tour … oder war es ein anderer Brief? Und ich weiß, wie wir losgefahren sind und ab da sind meine Erinnerungen ganz klar. Ich meine die Tour und so. Aber … aber alles, was davor war … ist weg. Ich weiß, dass ich auf einer Schule war und immer der Kleine im Rollstuhl und alles, aber ich erinnere mich nicht an Details. Es ist, wie …“
„Ich weiß, wie es ist“, sagte Elizabeth, als er abbrach. „Oder eher, ich kenne dein Problem. Es müsste sich so anfühlen, als wäre dir deine Vergangenheit zwar beschrieben worden, aber du hättest sie nie erlebt.“
Blaze sah sie an. „Genau! Genauso ist es!“
„Verflixt und zugenäht!“ Elizabeth sprang auf. „Das ändert alles. Elaine muss mit dir reden. Und ich muss die anderen befragen!“
Sie lief zum Rest der Gruppe, der immer noch die drei Geister aus Glas betrachtete. Elizabeth redete aufgeregt auf Elaine ein, vorauf die Blondine zu Blaze herüber kam.
„Was … was ist denn los?“, stammelte er.
„Wir haben einen Verdacht.“ Elaine setzte sich neben dem Enthinderer auf die Erde. „Aber zuerst muss ich sicher gehen, dass wir recht haben.“
„Und wie?“, fragte er leise.
„Erzähl mir von den Leuten, die dich in der Grundschule gehänselt haben“, verlangte Elaine.
„Ich … weiß nicht. Das ist lange her.“
„Du bist 15, mein Freund“, meinte Elaine belustigt. „Gut, erzähl mir, wen du bei der Tour als erstes getroffen hast.“
„Das war Sarah, meine Betreuerin“, erzählte Blaze erleichtert, weil er sich erinnerte. „Sie war mir gleich sympathisch. Sie hat so einen Witz gemacht, als wüsste sie nicht, wer von uns dreien der Rollstuhlfahrer war, dabei sitzen meine Eltern ja nicht im Rollstuhl. Ich fand sie nett. Und sie sagte auch, das ich älter aussehe, als ich bin. So was ist toll.“
„Du hast die Szene genau vor Augen, nicht wahr?“, fragte Elaine.
Blaze zögerte und nickte. Er sah alles: Sarahs Zopf und ihre Verbeugung, ihre offene, freundliche Art, er erinnerte sich an die Sorge seiner Eltern … „Ich habe alles sehr lebendig vor Augen“, erkannte er. „Als könnte ich es wie einen Film abrufen.“
Elaine nickte. „Dein Gedächtnis funktioniert anders als das von gewöhnlichen Menschen. Doch du musst erst darauf gestoßen werden, um es zu erkennen. Das erklärt, wie wir es die ganze Zeit nicht merken konnten.“
„Was? Was merken konnten?“ Blaze‘ Stimme war ganz leise geworden.
Elaine sah ihn an. „Das wird jetzt vermutlich ein Schock für dich. Du bist kein Mensch, Tobias.“
Er sah sie an, dann auf seine Hände. „Kein … Mensch?“
„Kein echter Mensch jedenfalls“, verbesserte sich Elaine. „Obwohl du biologisch ein normaler Junge bist. Aber du bist das, was wir Wächter eine Figur nennen. Du bist nicht real, sondern ein Charakter in einer Geschichte, die sich jemand ausgedacht hat.“ Sie sah ihn aufmerksam an, um zu ergründen, wie viel Wahrheit er verkraften konnte. „So wie Ifrit und Asmodai. Und so wie ich.“
„Du?“, fragte er.
Elaine zögerte. „Eigentlich verheimlichen Wächter ihre Identität. Ich muss dich also bitten, das nicht weiter zu verraten. Sam und Lizzy wissen es natürlich. Vor allem Lizzy – sie hat mich erst zu den Wächtern geholt. Aber ja, ich bin eine Figur. Eine Elfe, um genau zu sein.“
Elaine griff sich an die Ohren und zog zwei winzige, fleischfarbene Ohrstecker heraus, die Blaze zuvor nicht aufgefallen waren. Plötzlich hatten ihre Ohren lange Spitzen, bestimmt zwanzig Zentimeter. Er starrte Elaine sprachlos an. Sie setzte die Stecker wieder ein und die Ohren verschwanden.
„Wächter haben viele Geheimnisse“, erklärte sie nur. „Die Art, wie dein Gedächtnis funktioniert, ist typisch für Figuren. Wir erleben zwar alles, was unser Autor uns an Erfahrung zuschreibt, doch wenn man genau in sich horcht, fühlen sich manche Erlebnisse real an, andere nicht. Das ist der Unterschied zwischen Dingen, die du sozusagen „live“, also gemeinsam mit dem Leser erlebt hast, und jenen, die nur über dich ausgesagt wurden.“
„Was bin ich denn, wenn ich kein Mensch bin?“, fragte Blaze.
„Du bist Fantasie, die Gestalt angenommen hat“, sagte Elaine. „Du stammst aus einer Geschichte. Welche, das müssen wir jetzt herausfinden. Dein Schicksal muss mit der Tour verknüpft sein, anders kann ich mir nicht erklären, wie du hier landen konntest, ohne dass unsere Akademien etwas gemerkt haben. Denn das ist unsere Aufgabe: Figuren einzufangen, die aus ihrer Geschichte entlaufen.“
Blaze sah sie an. „Das heißt, meine … meine Geschichte ist die Hell-Hopping-Tour?“
„Theoretisch hieße es das, ja.“ Elaine klang überrascht. „Du wirst einen guten Wächter abgeben, du bist intelligent. Aber die Tour wurde von Ifrit und Asmodai erschaffen. Ich glaube nicht, dass sie auch dich erschaffen haben, das ist … nicht ihr Stil. Sie erschaffen Fabelwesen und Monster, keine kleinen Jungen im Rollstuhl. Nein, es muss noch ein dritter Autor existieren, von dem wir nichts wissen.“
Elizabeth kam zurück. „Alle erinnern sich an ihre Vergangenheit. In lebhaften Details. Sie sind echt.“
„Blaze nicht“, teilte Elaine ihr mit und warf Blaze dann einen Blick zu. „Nichts für ungut.“
Er winkte ab. Er war sowieso viel zu verwirrt, um sich darüber Gedanken zu machen.
Auch Sam erschien jetzt. „Es muss einen dritten Autoren geben.“
„Zu dem Schluss sind wir auch schon gekommen“, sagte Elaine. „Nur, wer kommt dafür in Frage?“
„Es gibt eine Person, die im Reich der Toten nicht wieder aufgetaucht ist“, meldete sich Sam zu Wort. Seine Freundinnen sahen ihn verwirrt an.