Metschta
oder
Das Geheimnis der Hell-Hopping-Tour
Scherben:
Milo war bewusstlos geworden. Max war froh, dass der Junge endlich die Klappe hielt. Er hätte das Gejammer nicht viel länger ertragen.
Auch ansonsten trat Stille ein. Kassie hatte ihr sinnloses Rufen aufgegeben, Karo sich übergeben, nachdem sie einen Blick auf den verbrannten Stumpf mit dem herausragenden Knochen geworfen hatte, der einmal Milos Fuß gewesen war.
Der Anblick berührte Max nicht. Ihm wurde nicht schlecht, er empfand kein Mitleid, nichts. Das war es wohl, was der Pakt mit Ifrit bewirkte: Er fühlte nichts mehr.
Und trotzdem hatte er sich entschieden, der Gruppe zu helfen. Es war nicht einmal eine bewusste Entscheidung gewesen, doch es fühlte sich so an, als hätte er sich nach langem Abwägen entschieden. Vielleicht hatte er es immer gewusst. Und Ifrit wohl auch. Sie hatte ihn ohne zu zögern im Stich gelassen – die anderen hatten das nicht getan. Sie hatten für ihn gekämpft.
Max wusste, dass er in ihrer Schuld stand und ihnen ihre Hilfe zurückzahlen musste. Als erstes zog er seine Jacke aus und legte sie über die Schultern von Karo, die in der einsetzenden Nacht erbärmlich zitterte. Er ging lautlos davon, ehe sie wusste, dass er es gewesen war.
Da hörte er ein Flüstern. Wie ein schwacher Windhauch …
„Ich kann sie sehen!“, erklang eine dünne Stimme. „He, hallo! Hallo?“
Max blieb irritiert stehen. Die Stimme klang gleichzeitig nah und fern.
„Er … er sieht mich nicht.“
„Lass den Kerl, Mo. Das ist doch der Typ, der zu Ifrit gehörte. Versuchen wir es lieber noch mal bei Amy – ich meine, bei Kassie. Vielleicht hören sie uns jetzt, wo alles ruhig ist.“
„Wartet!“, flüsterte Max.
„Er sieht mich doch! Hier bin ich, Max!“
Max zögerte. Er konnte nichts sehen, nur das steinerne Portal und einige Pflanzen, die sich im Wind bewegten.
„Mortimer?“, fragte er vorsichtig.
Machte er sich hier zum Narren? Die Stimmen waren so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
„Ja, Max!“ Die geisterhafte Stimme klang erleichtert und ängstlich zugleich. „Ich bin direkt vor dir.“
Max streckte die Hand aus, wie im Traum, fast wie ferngesteuert. Er fühlte nichts, außer vielleicht einer rätselhaften Kälte.
„Bitte sag mir, dass wenigstens du mich sehen kannst“, flehte Mo.
„Nein“, sagte Max. „Ihr seid vollkommen unsichtbar. Ich fühlte einen kalten Hauch.“
„Deine Hand steckt in meiner Brust!“ Mortimer klang beinahe empört. „Aber immerhin kannst du uns hören! Wir versuchen schon die ganze Zeit, eure Aufmerksamkeit zu bekommen.“
„Was machst du da?“, fragte eine harte Stimme.
Max drehte sich um. Kassie stand ihm gegenüber. Ihr Blick war eisig. „Mit wem redest du?“
„Hörst du sie nicht?“ Max wollte wissen, ob wirklich nur er die Geister vernehmen konnte.
Mortimer schrie Kassies Namen. Doch sie schüttelte nur verwirrt den Kopf. „Was soll der Scheiß, Max? Warum bist du überhaupt noch hier? Du kannst dich jetzt verpissen.“
Er sah sie gelassen an. „Du bist übermüdet. Reiß dich einen Moment zusammen. Kannst du wirklich nichts hören? Es ist wichtig.“
Kassie schüttelte nur entnervt den Kopf und drehte sich um, um zu den anderen zurückzugehen.
„Nein!“, brüllte Mortimer. „Kassie! Max, sag ihr, dass wir hier sind! Los!“
„Mortimer ist hier“, sagte Max gehorsam.
Kassie blieb wie angewurzelt stehen.
„Liam und Eve auch!“, soufflierte Mo und Max gab die Information weiter.
„Das ist echt nicht der richtige Zeitpunkt für blöde Witze!“, fuhr Kassie ihn an.
„Es stimmt“, sagte Max schulterzuckend. „Aber offenbar kann nur ich sie hören. Vielleicht wegen meiner Gabe – komm her und versuch es noch mal.“
Kassie kam zögerlich näher.
„Mo?“, fragte sie zaghaft.
„Kassie! Kassie, ich bin so froh, dass du entkommen konntest. Wir waren wohl einige Sekunden zu langsam. Aber es wird alles wieder gut. Irgendwie finden wir eine Lösung und es wird alles gut.“
Kassie sah Max verstört an. „Ich höre nichts. Wenn das wieder so ein Spiel ist, Max, bringe ich dich um.“
„Er sagt … sie waren zu langsam. Er verspricht dir, dass alles wieder gut wird“, gab Max mit unbewegtem Gesicht wider. „Er will eine Lösung finden.“
„Wer? Asmodai?“
Plötzlich waren die drei Wächter aufgetaucht und betrachteten Max misstrauisch.
Er seufzte. „Nein, Mortimer.“
„Mo?!“, entfuhr es Sam.
„Max behauptet, dass sie hier sind“, teilte Kassie den drei Wächtern mit spöttischem Unterton mit. Von dem Lärm angelockt, erschienen nun auch Karo und Blaze. Max‘ Neuigkeit ging wie ein Lauffeuer durch die kleine Gruppe und jede Wiederholung der Worte klang ungläubiger.
„Seid still!“, fauchte Max. „Ich kann sie nicht hören bei dem Gebrabbel.“
Er blickte in die Luft. „Mo? Sag mir irgendwas, dass nur du wissen kannst.“
„Nur ich und Kassie, meinst du wohl!“, erklang Mortimers Stimme.
„Nur du und Kassie.“ Max verdrehte die Augen.
„Erzähl ihr … erzähl ihr vom dem Pizzawettessen und der Peperoni.“
Max runzelte die Stirn und sah Kassie an. „Pizzawettessen und Peperoni?“
Kassie riss die Augen auf. „Er hat geschworen, das niemals jemandem zu erzählen!“
Dann schnappte sie nach Luft: „Luca?! Das bist wirklich du?“
„Max scheint ein echt gutes Medium zu sein“, brummte Sam, der immer noch Zweifel zu hegen schien. „Wieso kannst nur du sie hören?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht … vielleicht wegen dem, was Ifrit mit mir gemacht hat – mir Macht zu schenken, meine Sinne zu erweitern.“ Max überlegte. Es gab so vieles, was er herausfinden musste. Nachdenklich betrachtete er das Nichts vor sich. Er konnte die Geister fühlen … wäre es da nicht möglich …?
Er streckte die Hand wieder aus und fühlte Mortimer an seinen Fingerspitzen. „Vertraust du mir?“
„So weit, wie ich im Moment einen Kirschkern werfen könnte!“, spuckte Mortimer zurück. „Und da ich ein Geist bin, könnte ich den Kern nicht einmal aufheben!“
Max ignorierte das Geschimpfe und schloss die Augen. Er rief seine Macht zu sich.
„Kannst du Evelyn und Liam an die Hände nehmen?“, fragte er Mortimer. Waren Geister dazu in der Lage, sich gegenseitig zu ertasten?
Es blieb still, also vermutete Max, dass Mo Erfolg gehabt hatte. Er rief die Macht des Glases zu sich. Fühlte seine kühle, fließende Kraft an seinen Fingerspitzen und lenkte sie nach vorne … schenkte den dreien, die ihm das Leben ermöglicht hatten, etwas von seinem neuen Element.
Er hörte die anderen Lebenden hinter sich nach Luft schnappen. Als er die Augen öffnete, floss das Glas gerade in die Füße und Eve und Liam, die Luca an den Händen hielten.
Die drei waren zu sehen. Sie standen vor ihnen, silbrige, durchscheinende Schatten aus flüssigem Glas. Geister … sichtbare Geister.
„Mortimer …“, flüsterte Kassie und trat als erste vor.
„Kassandra.“ Mortimer grinste schief.
Seine Stimme war klar. Kassie schlug die Hände vor den Mund. „Ich höre dich.“
„Verdammt“, sagte Mo. „Jetzt kann ich nicht mehr über dich lästern.“