Eine Lektion in Galgenhumor:
Plötzlich waren Luca und Amy weg. Karo sah sich erschreckt um und entdeckte ihre Freunde erst im zweiten Moment. Max zog sie über eine Straße aus Glas, die er noch im Laufen vor ihnen erschuf, fort von der umzingelten Säule.
Eilig stolperte Karo ihnen hinterher. Der durchsichtige Boden unter ihren Füßen zeigte bei jedem ihrer Schritte feine Risse und knirschte bedrohlich.
Sie erreichte die Freunde, als Max' Straße auf den Boden traf und sie sich auf die Sicherheit des Grasbodens begaben. Amy warf Karo einen Blick zu und ergriff dann ihr Handgelenk, um sie mit sich zu ziehen.
Zu viert rannten sie über die Wiese. Die Kartenkrieger folgten ihnen.
"Es sind einfach zu viele", keuchte Kassie im Laufen. Karo gewöhnte sich mehr und mehr an die neuen Namen ihrer Freunde, denn Mo und Kassie hatten sich stark verändert. Sie waren nicht länger Luca und Amy, die beiden verschlossenen, verängstigten, von Alpträumen geplagten Mitbewohner, die Karo kennengelernt hatte. Nun waren sie Kassandra und Mortimer, zwei Fremde, denen die Schrecken der Tour nicht mehr ganz so viel anhaben konnten. Zwei Helden.
"Lauft zum Wald!", rief Mo, der noch nicht außer Atem war.
"Guter Witz", gab Max zurück, denn die komplette Armee der Herzkönigin und das Heuschreckenwesen selbst befanden sich zwischen ihnen und dem Wald.
"Schlagt einen Bogen, los schon", wies Mo sie an. "Ihr lauft schneller als die Pappenheimer."
"Wir sind ja auch windschnittiger als so eine Karte", musste Kassandra erkennen.
Karo musste lächeln, denn ihr drängte sich die Vorstellung auf, wie eine Spielkarte sich gegen einen Windstoß zu stemmen versuchte und fortgeweht wurde. Sie rannte noch etwas schneller und folgte Mo, Max und Kassie, die in eine weite Kurve verfielen.
Die Kartenkrieger folgten ihnen immer noch auf direktem Weg. Als sich die vier Flüchtigen langsam zum Wald richteten, kam keiner der Soldaten auf die Idee, ihnen den Weg abzuschneiden. Die Königin stieß ein wütendes Kreischen aus: "Lauft zum Wald, ihr Dummköpfe, zum Wald!"
Worauf einige der Soldaten Kehrt machten und direkt zum Waldrand liefen.
"Nein, fangt sie ein!"
Jetzt begann die Armee, sich zu verheddern, wie ein großes Tier, das mit seinen unzähligen Beinen durcheinander gekommen war. Einige Krieger folgten den vier Flüchtigen, andere liefen zum Wald und der Rest wurde zwischen ihnen gefangen und niedergetrampelt. Die vor Wut tobende Königin tat ihr Übriges.
"Das läuft besser als gedacht!", grinste Mo im Laufen. "Jetzt können wir uns in aller Ruhe aus dem Staub machen."
"Woher wusstest du das?", keuchte Kassie, die schwerfälliger und schwerfälliger lief, offenbar am Ende ihrer Kräfte. Die Gruppe wurde ein wenig langsamer.
"Ich wusste nicht, dass das passiert", antwortete Mo. "Ich dachte nur, im Wald könnten wir uns besser verstecken. Außerdem liegt dort irgendwo der Ausgang."
Sie hatten den Schutz der fremdartigen Bäume erreicht. Noch immer standen hier viele Lebensmittelbäume, die Tee, Lollies oder anderen Süßkram in ihren Kronen trugen. Dazwischen standen Zuckerstangen. Doch andere der Bäume sahen realistischer aus, wie echte Bäume. Irgendetwas störte Karo an den Gewächsen.
"Sind sie noch hinter uns her?", fragte Karo und warf einen Blick zurück zu den Karten.
"Ja, aber verlangsamt", sagte Max, ohne hinzusehen. "Wenn wir im Wald ein paar Haken schlagen, sollten wir ihnen entkommen können."
Es folgte eine kurze Stille.
"Übrigens danke für deine Hilfe eben", sagte Kassie dann.
Max schnaufte abfällig und gab keine Antwort.
Sie gingen weiter. Im Wald wurde es nun schnell dunkler, da die Blätter der Bäume alles Licht schluckten. Karo beschlich ein ungutes Gefühl. Sie ging zu einem der normal aussehenden Bäume und strich über die raue Rinde.
Nur, dass die Rinde nicht rau war. Sie fühlte sich feucht an, weich, lebendig und fleischig. Ein dunkles Astloch öffnete sich plötzlich, klappte zu beiden Seiten auf, und heraus ragte ... ein weißes, rundes Etwas, glitschig und schleimig, mit einem dunklen Kreis darauf.
Karo sprang mit einem Schrei zurück.
"Was ist denn?", Kassie und Mo waren sofort bei ihr.
"Ein Auge!", Karo wies mit einem zitternden Finger auf den Baum. "Da war ein Auge!"
Alle vier starrten den Baum verschreckt an, doch der erschien nun völlig harmlos.
"In einem Astloch", stotterte Karo weiter. "Er hat mich angesehen."
"Diese beiden Dämonen sind nicht besonders einfallsreich", brummte Mo unbeeindruckt. "Bäume mit Augen habe ich schon hundertmal gesehen. Asmodai und Ifrit lassen nach."
Karo kicherte nervös. Irgendwie nahm es der Angst ihre Schärfe, sich daran zu erinnern, dass diese Welten von zwei Personen geschaffen worden waren, dass sich jemand diese Dinge ausgedacht hatte, um Leuten Angst zu machen.
Es half nicht viel, aber es half ein bisschen. Und das reichte.