Angst:
Der Enthinderer rollte und sprang den breiten Gang entlang, fast wie ein wildgewordenes Pferd. Blaze merkte kaum, wie er das Gerät steuerte – es würde ihn auch nicht wundern, wenn der Rollstuhl ein Eigenleben entwickelt hätte.
Als er nach hinten sah, waren die schwarzen Wölfe dicht hinter ihm, und sie waren groß geworden. Der Flur war breit, und doch passten nur zwei der Wesen nebeneinander hinein, ihre Augen tanzten dicht unter der Decke, während sie Blaze folgten, die schwarzen Wolken, zu denen die Körper geworden waren, ließen keinen Spalt, keine Lücke zwischen Wänden und Finsternis.
Es war, als würde eine Rauchwolke Blaze folgen, eine Wolke mit zwei Paar glühend roter Augen.
Er wusste es – wie es jeder wusste, dem der Fluch der Alptraumwölfe auferlegt worden war – dass seine Angst sie näherte und dass sie sich gegen ihn wandten, sobald ihn der Mut verließ. Solange Blaze sich nicht vor ihnen fürchtete, waren sie zahm und folgten seinem Willen.
Doch jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. Auch das Wissen half ihm nicht. Panisch umklammerte Blaze den Steuerknüppel und trieb den Enthinderer zu neuen Höchstleistungen. Sein Herz raste wie wild, also fuhr er noch schneller.
Die Wölfe ließen sich nicht abschütteln.
Der Gang vor ihm öffnete sich zu einem neuen Foyer, das in einer Glasfassade endete. Bleiches Licht schimmerte durch das gewellte Glas – was dahinter lag, war nicht zu erkennen, doch es musste Freiheit sein, Freiheit im Mondschein, denn woher sonst sollte das Licht stammen?
Blaze drückte den Steuerknüppel so weit wie möglich nach vorne und raste dahin, die Räder holperten über unsichtbare Hindernisse. Eine Balustrade tauchte vor ihm auf, Blaze drückte einen Knopf und ein Metallbalken schob sich vor ihn und fuhr zwei Glasscheiben aus, die die Holzsplitter abhielten, als Blaze durch das Geländer krachte.
Er befand sich im freien Flug. Die dunkle Halle lag unter ihm und Blaze sah, dass sie mit Krankenhausbetten vollgestellt war – es erinnerte an eine Straßenbarrikade.
Der Enthinderer schlug auf den Boden auf und taumelte. Eine krachende Mechanik federte den Sturz ab, trotzdem wurde Blaze durchgeschüttelt. Die Reifen quietschten auf dem Boden, der Enthinderer drehte sich um sich selbst. Abwechselnd sah Blaze das leuchtende Fenster und die schwarzen Wölfe. Er kämpfte um die Kontrolle.
Mit einem Knurren kam der Enthinderer zum Stehen und Blaze starrte in die mordlustigen Augen der Wölfe, die auf ihn zugerannt kamen. Alles in ihm drängte danach, die Flucht zu ergreifen, doch stattdessen umklammerte er die Seitenlehnen, krallte die Finger tief in das Polster – und brüllte den Wölfen wortlos entgegen.
Die schwarzen Hunde hielten an. Ihre Jagdformation löste sich auf und sie trat nebeneinander, sieben riesige, hechelnde und geifernde Gestalten. Blaze musste Luft holen.
Die Wölfe traten geschlossen einen Schritt vor und Blaze blieb die Luft im Hals stecken. Er konnte kaum atmen. Keuchend sah er auf.
„Ich fürchte euch nicht!“, flüsterte er.
Die Wölfe regten sich nicht, trotzdem kam es ihm so vor, als spüre er ihre Belustigung. Er ballte die Hände zu Fäusten. „Ich habe keine Angst vor euch!“, brüllte er ihnen entgegen, und während er es sagte, flutete Mut sein Herz wie eine goldene Woge. Blaze stemmte die Hände in die Lehnen und drückte sich nach oben, seine Beine zitterten unter dem ungewohnten Gewicht, doch er hob stolz den Kopf und sah dem vordersten Wolf direkt in die Augen. „Ich habe keine Angst!“
Sein Herzschlag beruhigte sich und war jetzt fast unnatürlich ruhig, wie in Zeitlupe. Der vorderste Wolf, der größte der sieben, legte eine Tatze vor und kauerte sich dann zusammen, senkte den riesigen Kopf zu einer Verbeugung. Durch das große Glasfenster fiel silbern das Mondlicht ein.
Noch während Blaze sich mit zitternden Armen nach oben drückte, schrumpften die Wölfe und wurden wieder zu Hunden, pechschwarzen Labradoren mit rot schimmernden Augen.
Blaze ließ sich zurückfallen. Die Hunde standen auf und trotteten zu ihm, einer leckte ihm die Hand ab.
Blaze drehte den Enthinderer und fuhr einen Gewehrlauf aus. Ein Schuss krachte und die gesamte Glasfront stürzte klirrend in sich zusammen. Blaze sah dem Mond entgegen, der über schwarzen Tannen und kahlen Bäumen stand. Raureif lag auf dem düsteren Gras und dem Kieselweg, schwarze Büsche und Sträucher hockten wie Gargoyle auf dem Rasen.
Und nicht weit entfernt erhob sich erneut Glas, das sanft glitzerte. Ein keuchender Schluchzer entrang sich Blaze' Kehle.
Er hatte nicht die andere Seite des Asylums erreicht, sondern nur einen Innenhof.