Meeresufer:
„He! Wo wollt ihr hin?“, brüllte Sam.
„Lass sie doch laufen“, meinte Elizabeth.
„Nein – sie haben Zerberus auf uns aufmerksam gemacht!“, fluchte Sam und deutete auf den riesigen, dreiköpfigen Hund, dessen drei Augenpaare sich glühend auf sie richteten.
„Verdammte Dämonen“, zischte Elizabeth.
Blaze konnte den Blick nicht von den sechs leuchtenden Augen wenden. Der pechschwarze Riesenhund sah aus, als wären die sieben Alpraumwölfe zurückgekehrt. Er spürte ihre Bisse wieder, die Zähne, die in sein Fleisch eindrangen.
Schmerzen fuhren durch seinen Arm und Blaze schrie auf, ehe er Kassies Hand erkannte, die sich um sein Handgelenk geschlossen hatte.
„Blaze, komm schon!“, schrie sie ihn an.
Er schloss die Finger um den Steuerknüppel und ließ den Enthinderer nach vorne springen. Kassie schrie erschrocken auf, dann war sie hinter ihm. Ihre Haare fielen auf seine Schulter – sie stand auf dem Fußbrett.
Die anderen waren schon ein ganzes Stück vor ihnen und eilten auf das stürmische Ufer zu. Nur Mo lief etwas langsamer und sah zu ihnen zurück. Er gestikulierte wild. „Schneller!“
Blaze sah in den Rückspiegel und erblickte Geifer und spitze Zähne. Sein Herz setzte einen Schlag aus, dann war er wieder im Irrenhaus und floh, während er seine Freunde rufen hörte. Er raste durch endlose Gänge, die Wölfe waren überall um ihn herum.
Seine Hände verloren den Halt am Steuerknüppel. Um ihn herum war nur Schwärze. Er presste die Hände fest gegen die Stirn und schrie. Schrie, als ob ihn das irgendwie retten könnte.
Alles drehte sich und wirbelte durcheinander.
Dann war alles ruhig. Hell. Er saß in einem Rollstuhl, seinem Rollstuhl, dem alten und vergleichsweise klapprigen Ding, mit dem er auch zur Hell-Hopping-Tour gefahren war.
Seine Umgebung war ein heller, freundlicher Flur in warmem Macchiato-Beige. Er rollte, ohne dass er die Kontrolle gehabt hätte, auf die Tür zu, öffnete sie, rollte nach draußen auf einen gewundenen Weg aus weißen Steinen zwischen dem Grün eines gepflegten Vorgartens.
Mit quietschenden Reifen näherte er sich dem Briefkasten am weißen Gartenzaun. Vögel sangen in den runden Büschen und Blumen dufteten. Ein paar Kinder spielten auf der Straße Himmel-und-Hölle, starrten neugierig zu ihm herüber und spielten dann weiter.
Tobias öffnete den Briefkasten und entnahm die Post. Eilig blätterte er hindurch. Und dann blieb sein Herz stehen: Ein an ihn adressierter Brief, den er erwartet und vor dessen Kommen er sich so sehr gefürchtet hatte. Im Feld des Absenders stand der Name, der auch unzählige Buchrücken in seinem kleinen, vollgestellten Zimmerchen zierte.
Sergej Dimitri Vladimir Metschta. Der größte Autor aller Zeiten.
Tobias atmete flach und schnell, sein Herz raste und der Brief drohte, seinen zitternden Fingern zu entgleiten.
Gewonnen! Er hatte gewonnen! Er, als einziger aus Millionen und Milliarden von Fans! Er, der nicht hatte teilnehmen dürfen, weil er noch keine achtzehn Jahre alt war. Er hatte trotzdem einen Text eingeschickt und die ID-Prüfung im Internet mit dem Personalausweis seines Vaters ausgetrickst. Jetzt hatte sein Text Metschta persönlich beeindruckt und er hatte den weltweiten Wettbewerb gewonnen: Und damit eine Ausbildung beim Meister der Schreibkunst persönlich!
Tobias presste den Brief gegen sein Herz und Tränen liefen ihm über die Wangen. Gewonnen, er, der sonst nie etwas gewann!
Und jetzt musste er den Brief abgeben, seinen Eltern alles beichten und dann ablehnen. Das war bitter, so viel bitterer, als nicht gewonnen zu haben. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
„Blaze!“
Er schlug die Augen auf. Holperte mit dem Enthinderer über rauen Fels. Mo lag halb auf seinem Schoß und steuerte und Kassie befand sich im Rückspiegel, mit einem Seil am Enthinderer festgebunden und auf Rollschuhen – wo hatte sie die her? – während sie unermüdlich nach hinten auf den nahenden, dreiköpfigen Hund schoss.
„Blaze, komm schon!“, rief Mortimer wieder. „Wir müssen auf das Boot.“
Blaze sah nach vorne. Der Fahrtwind biss in seine Augen, doch er erkannte ein kleines Holzboot, das vom Ufer abtrieb. Eine in einen dunklen Umhang gekleidete Gestalt ruderte das Boot fort vom Ufer, doch die Fahrgäste – Sam, Lizzy, Elaine und die anderen – winkten und riefen.
Blaze ergriff den Steuerknüppel und drängte Mo zur Seite. „Halt dich fest!“
„Da bist du ja endlich wieder“, lächelte Mo und rief Kassie zu: „Bereitmachen!“
Blaze fand den Schalter zum Springen und drückte ihn. Der Enthinderer stieß sich vom Rand der Klippen ab und segelte durch die Luft. Kassie hinter ihnen schrie überrascht.
Dann krachten die Räder auf das Holz und der Enthinderer hielt in einer Wolke fliegender Späne auf dem Kahn, der heftig ins Schwanken geriet. Keuchend rang Blaze nach Atem, während Mo in Jubel ausbrach.
„Noch mehr Fahrgäste?“, schnarrte die dunkel gekleidete Gestalt. „Das wird teuer. Sehr teuer.“
„He! Holt mich rein, holt mich rein!“, brüllte Kassie, die nach dem Sprung im Wasser gelandet war. Viele Hände griffen nach dem Seil und zogen sie an Bord, während Blaze den Kopf schüttelte, um die seltsame Erinnerung zu vertreiben. Wann hatte er diesen seltsamen Brief bekommen? Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern. Aber dann wieder war sein Gedächtnis eine sehr seltsame Sache, wie ihm nun bewusst wurde.
„Wo sind denn meine Lieblingsdämonen?“, fragte Mo.
„Die haben sich aus dem Staub gemacht“, seufzte Lizzy. „Ich nehme mal an, unsere Abmachung wäre damit erfüllt.“
„Wartet mal!“, rief Karo. „Da drüben – da schwimmt noch jemand! Los, wir müssen hin!“
„Bist du verrückt?“ Kassie kroch gerade mit tatkräftiger Hilfe von Milo und Eve an Bord und spuckte Wasser. „Das ist Max. Ich rühre keinen Finger für den Idioten, der hat mich schon einen gekostet!“