Oh, Death:
Schwärze.
Schwerelosigkeit.
Und für eine ewige Zeit gab es überhaupt keine Zeit, kein Verstreichen von Minuten, Sekunden, Tagen.
Sie fiel durch leeren Raum, oder fiel sie wirklich? Vielleicht schwebte sie auch, in keine bestimmte Richtung. Es gab keinen Wind, nicht einmal einen Luftzug, wenn sie mit den Armen wedelte. Es gab auch keinen Atem und keinen Herzschlag, doch das Wichtigste war: Es gab keine Schmerzen, keine Wolfszähne, keine Angst und keine verzweifelte Flucht mehr.
Nach einer Weile, die aus Sekunden oder Äonen hätte bestehen können, wurde die Schwärze und Schwerelosigkeit sehr plötzlich zu einem schwarzen Fluss in einem düsteren, aschegrauen Land.
Das Wasser war kalt und geschmeidig in ihrem Rücken, während sie dahin trieb, ohne Bedürfnis, sich zu regen.
Regen fiel ihr auf das Gesicht und die geschlossenen Augenlider. Er schmeckte … nicht bitter, aber nach Trauer und Einsamkeit. Im Grunde schmeckte er süß, wie er ihr über die kalten Lippen rann.
Dann ging sie eine Straße entlang, in einer langen Reihe grauer Gestalten aus Nebel und Rauchfetzen, wie eine Schlange armer Bettler.
Sie lief mit, im gleichen Tempo. Niemand hatte einen Blick für seine Nebenmänner und -frauen übrig, warum auch? Sie gingen alle dem gleichen Ziel entgegen, einem großen Tor, einem goldenen Tor auf einer schwarzen, gebogenen Brücke über einen rauschenden Fluss.
Und sie wusste, dass sie genauso gesichtslos, grau und nebelig war wie alle anderen. Sie waren alle gleich.
Das Tor ragte vor ihr auf, doch es gab kein Weiterkommen. Die Menge staute sich.
Ihre Aufmerksamkeit glitt fort von dem Tumult. Etwas stimmte dort vorne nicht, doch es betraf sie nicht.
Graue Gräser am Wegesrand. Graue Spuren im grauen Staub.
Kein Himmel über ihr, nur graues Nichts. Weder tief noch nah.
Es mochte kalt sein, doch sie spürte keine Kälte.
Endlich ging es weiter. Die Menge strömte nicht, sie schwappte gemütlich und träge dahin. Sie hatten keine Sorgen, doch sie waren auch nicht sorglos.
Dann war das Tor vor ihr und wurde zu einer riesigen Waage. In ihren Händen hielt sie plötzlich ein Gewicht, ein Herz aus Stein oder Holz oder Glas … sie konnte es nicht sagen, welches Material es war. Ihr Herz. Das Herz, das ihr ganzes Leben und ihr Wesen in sich trug, jede ihrer Entscheidungen und jedes ihrer Gefühle, jede Angst, jede Liebe, jede Freundschaft.
„Ich war tapfer“, flüsterte sie, als sie vortrat. Ein hoffnungsloser Versuch. Hier und jetzt war alles zu spät.
Sie legte ihr Herz in die Waagschale. In der anderen tanzte und flackerte eine goldene Feder wie ein lebendiges Wesen.
Die Waage bewegte sich mit sanftem Knirschen.
Dann stockte sie plötzlich und das Herz kippte ihr zurück in den Schoß. Sie saß auf einem weißen Stuhl in einem weißen Gang und weißgekleidete Personen, zu groß für Menschen, standen um sie herum.
„Noch einer?“
„Diesmal ein Mädchen.“
„Wie kann das sein?“
„Die Wächter haben ihre Finger im Spiel.“
„Ich hasse sie.“
„Nicht die Wächter sind schuld, sondern ihre Feinde. Das Böse, das sich über alle Regeln hinwegsetzen kann.“
„Zeekaroth?“
„Nein, Diener von ihm. Splitter.“
„Was tun wir mit dem Mädchen?“
„Zu den anderen.“
„Zu den anderen!“
„Zu den anderen. Wir haben genug Zeit verloren.“
Und damit war sie plötzlich in einem leeren, düsteren Raum. Jemand bewegte sich, viele bewegten sich.
Und dann folgte eine vertraute Stimme.
„Evelyn? Eve, bist du das?“
Sie schlug die Augen auf.