Der graue Raum:
Mo blinzelte und schlug die Augen auf.
„Luca? Luca!“
Verschwommene Farbkleckse wurden langsam zu gestochen scharfen Gesichtern. Gesichter, die er nie wiederzusehen geglaubt hatte.
„Eve?“, murmelte er.
Die Schwarzhaarige nickte ihm lächelnd zu, doch Traurigkeit lag in ihren Augen.
„War alles nur ein Traum?“, fragte Mo.
„Nein, Luca, war es nicht.“
„Dann ist das jetzt ein Traum.“
„Auch nicht.“ Eve streckte den Arm aus und half ihm in eine sitzende Position. Liam und Milo flankierten die Schwarzhaarige.
Mo rieb sich die Augen. „Was …?“ Er tastete sich ab. Er hatte keine Schmerzen, doch er fühlte die Delle im Leib, von dem Biss, den er nur knapp überlebt hatte.
„Du bist tot.“ Sams Stimme erklang hinter Milo und der Wächter kam in Sicht. Grinsend, trotz des seltsamen Raums, in dem Mo eben aufgewacht war. Es war ein Raum ohne Fenster oder Türen, dessen Wände allein aus grauen Ziegeln bestanden, und der zu klein war für die vielen Personen, die sich darin drängten.
Mo merkte, dass ihm der Mund offen stand, doch er konnte sich nicht überwinden, ihn zu schließen. Da standen Elaine und Elizabeth und diskutierten über irgendetwas. Dort standen einige Jungen und Mädchen, deren Gesichter ihm vertraut waren, Gäste der zweiten Tour, die er erlebt hatte, und neben ihnen stand Tee-jo, Sams sportliche, schwarzhaarige Schülerin, und neben ihr Mira.
Wie Feuer und kaltes Eis flutete Hoffnung durch Mos Körper. Er stand auf und schob Eve sanft zur Seite.
Und da war sie, neben Mira. Die schüchterne, blasse Fay, hinter einem Vorhang aus blonden Haaren verschwunden.
Mo stolperte auf sie zu und ihre Augen huschten zu ihm, dann zur Seite, dann wieder zurück.
Sie sah ihn mit ihren wundervollen, blauen Augen an und blinzelte kaum noch.
„Fay“, flüsterte er. Seine Stimme war heiser.
Sie lächelte traurig. „Luca. Wobei ich gehört habe, dass du jetzt Mortimer genannt wirst.“
„Das weißt du?“, krächzte Mo. Er blieb vor ihr stehen.
„Ich habe so viel von dir gehört. Ich hatte gehofft … ich hatte gehofft, dich nie wiederzusehen. Dass es bei Erzählungen von jenen, die weniger Glück hatten, bleiben würde.“
Mo streckte die Hand aus und konnte ihr Gesicht berühren. Ihre weiche Wange, die feucht war.
„Du bist real“, murmelte er.
Fay lächelte, wich seinem Blick aus, und schwieg.
Er zog sie an sich. „Ich habe dich so vermisst!“
„Du hast mir gefehlt“, antwortete sie und er spürte ihre Arme um sich, als sie ihn festhielt und den Kopf an seine Brust legte. Er drückte das Kinn auf ihr Haar und atmete ihren Duft ein. Süß und schwach, schüchtern, so wie sie selbst.
Schließlich rückte er ein Stück von ihr ab, um ihr in das herzförmige Gesicht zu sehen.
„Wie kann es sein, dass ihr hier seid?“
Fay öffnete den Mund, um zu antworten, als ein leiser Ruf erklang. „Da kommt wieder jemand.“
„Es sollte doch wohl eigentlich niemand übrig sein“, murmelte Wild Child.
„Es ist Amy“, kündigte Eve an.
Mo spürte einen Stich tief im Inneren. „Aber … Ifrit war tot!“
Die Gruppe versammelte sich um das einzige Möbelstück im Raum, eine lange, klapprige Holzbank, die sich über die Länge einer Wand erstreckte. Darauf zeichnete sich ein unförmiger, annähernd menschengroßer Fleck ab, der rasch an Tiefe und Form gewann, bis die Farben zu einem Körper zusammenliefen.
Mo erkannte Kassie sofort.
Sie blinzelte und sah sich verwirrt um.
„Kassie!“, rief er. „Was ist passiert?“
Ihre Augen hefteten sich auf ihn und Mo prallte zurück, als ihm Angst und Hass entgegen strahlten. Kassie sprang auf. „Rühr mich nicht an!“, kreischte sie.
„Kassie … Amy, ich bin's!“, stammelte Mo und hob die Hände.
Kassies Blick flackerte irre durch den Raum, huschte über die vertrauen und weniger vertrauten Gesichter.
„Nein!“, presste sie mit hysterischer Stimme heraus. „Ihr seid nicht real! Das ist ein ganz fieser Trick, Ifrit!“
„Sie hat nichts damit zu tun“, sagte eine kalte Stimme. Die Menge teilte sich und Mo erblickte Max, der Kassie mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung betrachtete. „Es war Asmodais Idee. Das sechste Hotel dieser Tour – es wäre auch das vierte oder fünfte gewesen, je nachdem, wie lange ihr durchhaltet.“
Kassie starrte Max an. Ihr Atem ging schnell und flach.
„Kein Info-Dumping!“, mischte sich Elizabeth ein und trat zwischen Kassie und Max. „Kassandra, bitte beruhige dich. Wir sind keine Visionen der Nox-Geschwister. Du bist gestorben und das hier ist das Totenreich.“
Kassie betastete ihre Brust. „Anna … sie hat mich erschossen“, murmelte sie.
„Anna van Helsing?“ Diese Stimme gehörte Piek. „Das kann nicht sein!“
„Wenn sie es getan hat, dann nicht ohne Grund“, gab Elaine scharf zurück. „Wir sind alle noch hier. Der Tod war nicht das Ende – also gibt es noch Hoffnung.“
Kassie sah sich immer noch verwirrt um und ihr Blick blieb an Mo hängen. Sie bewegte stumm die Lippen.
Mo nickte. Ja, es war alles real. Mit einem schwachen Nicken deutete er auf Fay, die eng an seiner Seite stand, und lächelte entschuldigend.
Er sah, wie Kassie die Schultern sinken ließ. „Ich bin wirklich im Jenseits, wie?“
Eve trat auf sie zu und umarmte sie. „Willkommen in der Hölle.“
Milo folgte. Dann Liam, dem Kassie bereits lächelnd durch die Haare wuschelte. Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Augenwinkel.
„Gut, also … wie war das eben mit „Es gibt noch Hoffnung“?“