Der Sandmann:
"Mo, Blaze!", Kassies Stimme drang nur noch wie durch Nebel zu ihm durch. "Das ist irgendein Zauber. Bleibt wach."
Doch das konnte Mo nicht mehr. Es war, als würde auf einen Schlag alle Müdigkeit auf ihn fallen, die er in der letzten Zeit entbehrt hatte, all die schlaflosen Nächte seit ... seit wann eigentlich? Wann hatte er das letzte Mal gut geschlafen? Das war Ewigkeiten her, denn seit der ersten Tour waren seine Nächte von Alpträumen geplagt gewesen, in denen er wieder und wieder zusah, wie Eve zerfleischt wurde oder von Milos hoffnungslosen Schreien verfolgt wurde. Diese letzte gute Nacht hatte irgendwann vor der Tour stattgefunden - als die Hell-Hopping-Tour nur ein fernes Abenteuer war und er sich auf das Abi konzentriert hatte. Obwohl, schon da hatte er nicht immer gut geschlafen.
Jetzt juckten ihn die Augen vor Müdigkeit und eine angenehme Schwere legte sich auf seine Glieder, bis sich jede Bewegung so unangenehm anfühlte wie eine kalte Dusche. Nur am Rande nahm er wahr, dass er auf den Boden gesunken war, mit dem Rücken an einem Baumstamm. Die unebene Rinde störte ihn nicht, und auch nicht die Kälte des Bodens. Er konnte keinen Muskel mehr rühren.
Als er schwere Schritte hörte, schoss Adrenalin durch seine Adern, doch selbst das vermochte den Zauber nicht zu durchbrechen. Schlurfend und langsam kam etwas Schweres näher. Mühsam öffnete Mo die schmerzenden Augen und blinzelte gegen den Drang an, sie sofort wieder zu schließen.
Er erkannte die hinkende Gestalt, obwohl der Mann ein wenig anders aussah. Er war definitiv jünger, trug ein rotes Holzfällerhemd und eine zerrissene, braune Hose. Das Hinken stammte von einem verkürzten Bein und in den Händen hielt er eine langstielige, schwere Axt. Sein Gesicht war grobschlächtig, wie eine schlechte Zeichnung, unrasiert und mit tiefliegenden, wässrigen Augen. Diese Augen funkelten gierig.
"Lecter", murmelte Mo. Es war der Menschenfresser aus der Hütte im Wald, den sie schon einmal bekämpft hatten. Er erinnerte sich, wie sie in der Hütte jedes Mal von der Müdigkeit überwältigt worden waren.
"Kassie?", flüsterte er. Zu mehr war seine Stimme nicht fähig.
Lecter hinkte und schlurfte zielstrebig auf ihn zu. Mo tastete nach einer Waffe und fand Kiesel und Erdreich. Sein Kopf sank langsam auf die Brust.
Warum auch nicht? Warum sollte er nicht aufgeben? Wenn er kämpfte, würde er nur zum nächsten Hotel kommen, immer tiefer und tiefer in diese verfluchte Tour eintauchen. Es hatte doch keinen Sinn, wozu wollte er weiter leiden?
Lecter blieb stehen. Er schnaufte und gab etwas von sich, was wie verhunzte Sprache klang. Mo ließ die Kiesel los, die er umklammert hatte, die Steinchen rollten auf den Boden. Er öffnete die Augen. Lecter stand breitbeinig vor ihm und hob die Axt über den Kopf.
"Luca!"
Ein gellender Schrei, der fast wie eine Alarmsirene klang. Mo blinzelte, denn Lecter war fort. Er blickte zur Seite. Dort lag der Menschenfresser auf dem Boden, begraben unter einem Wesen mit wilden, roten Haaren.
Amy ... Kassandra.
Mo schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit zu vertreiben. Er ballte die Fäuste wieder um die Kiesel und kämpfte sich schwankend nach oben. In seinem Kopf drehte sich alles, er fühlte sich schlaftrunken.
Lecter schrie unartikuliert, wie jemand, dem die Zunge herausgeschnitten worden war. Er schleuderte Kassie zur Seite und stand schwerfällig auf. Ein Hosenträger war ihm von der Schulter gerutscht.
Mo blieb stehen und wartete, bis der Kannibale stand.
"Komm her! Los, komm her!", rief er mit schriller Stimme und wich zurück. Seine Augen huschten hin und her auf der Suche nach einem Ausgang.
Lecter schnaufte und kam auf ihn zu, wieder hob er die gewaltige Axt über den Kopf.
Mo warf die Kiesel und sprang zur Seite, gerade, als die Axt nach unten zu sausen begann. Die Steinchen trafen seinen Angreifer im Gesicht. Der heulte auf und schüttelte den Kopf, Mo schlüpfte an seiner Seite vorbei. Kassie, die inzwischen wieder stand, griff seine Hand und zog ihn mit sich.
"Wo ist Blaze?", rief Mo.
"Weiß nicht", antwortete Kassie und zog ihn hinter mehrere kleine Tannen. Keuchend spähte sie zwischen den Zweigen hindurch.
"Deine Pistolen", erinnerte Mo sie. "Erschieß' den Kerl."
Kassie sah ihn mit großen Augen an. "Mo ... das ist ein Mensch!"
"Erinnerst du dich an das, was Sam uns in Bates' Motel gesagt hat?", fragte Mo. "Es sind keine Menschen, keine echten wenigstens. Sie sind nur jemand, den sich ein Autor ausgedacht hat. Figuren. Sie leben nicht."
Kassie sah ihn an, schluckte, und schüttelte den Kopf. "Ich ... ich kann nicht, Mo."
"Gut, dann sehen wir zu, wie wir hier raus kommen.",
Mo stand auf. Von Lecter war keine Spur zu sehen, also zog er Kassie mit sich in das Gewirr mehrere großer Blumenbüsche.
"Blaze!", rief er und machte sich im nächsten Moment Vorwürfe. Hatte er dem Jungen nicht eben noch versprochen, dass sie sich nicht mehr trennen würden?
Als Antwort kam ein schriller Hilferuf. Kassie drückte Mos Hand fest und zerrte ihn dann mit sich auf den Quell des Schreis zu.
Sie stolperten aus dem Gebüsch und befanden sich vor der nächsten Hausfassade. Offenbar hatten die das Ende des Innenhofs erreicht. Vor einer großen Glasfassade saß Blaze in seinem Enthinderer. Die Wölfe umringten ihn im Halbkreis. Es war fast das gleiche Bild wie beim letzten Mal, dass sie Blaze gesucht hatten. Doch noch kehrten die Wölfe ihm den Rücken zu und knurrten Lecter an, der sich dem kleinen Rollstuhlfahrer schlurfend näherte.
"Warum greifen die Wölfe ihn nicht an?", fragte Mo im Rennen.
"Blaze hat Angst", Kassie war völlig außer Atem. "Sie gehorchen ihm nicht mehr lange."
Mo beschleunigte seine Schritte und überholte Kassie. Als Lecter seine Schritte hörte, drehte er sich um. Doch der Kannibale war nicht schnell genug: Mit einem Satz war Mo auf dessen beharrtem Rücken und schlug mit den Fäusten auf ihn ein.
"Lass Blaze in Ruhe, du Ungetüm!"
Lecter, von Mos Fäusten unbeeindruckt, packte seine Arme und schleuderte ihn weg. Mo schlug gegen einen Baum.
Stöhnend richtete er sich auf, doch ein Stich, der durch seine Rippen fuhr, warf ihn wieder auf den Boden.
Er hob den Blick: Lecter hielt immer noch auf Blaze zu. Der kleine Junge war vor Angst wie erstarrt. Die ersten Wölfe drehten die Köpfe zu ihm und geiferten auf Blut.
"Blaze, nein!", flüsterte Mo. Alle Luft war aus seinen Lungen gewichen. Er wollte sich wieder hoch kämpfen. Diesmal war der Stich noch schlimmer, schwarze Punkte tanzten um sein Blickfeld. Er befühlte seine Rippen.
Lecter trat zwischen den Wölfen hindurch und packte seine Axt fester, um zuzuschlagen.
Ein Schuss krachte. Dann kippte der Kannibale der Länge nach hin. Sein Kopf schlug kurz vor Blaze' Füßen auf den Boden auf.
Blaze sah auf. Die Wölfe hielten irritiert inne.
"Kassie! Mo! Ihr ... ihr habt ihn getötet!"
Wieder drückte Mo sich hoch, diesmal langsamer. Nach einigen Atemzügen waren die Schmerzen erträglich und er konnte zu Blaze humpeln.
"Keine Sorge, wir halten dir den Rücken frei", grinste er den Kleineren an. Zufrieden stellte er fest, dass die Wölfe sich aus dem Halbkreis lösten und durch den Park zu streunen begannen.
Kassie kam mit staksigen Schritten bei ihnen an. Sie war blass im Gesicht und hielt die Waffe noch immer umklammert.
Mo umfasste ihre Hände und löste die Pistole aus ihrem Griff. "Nur Gedanken, Kassie. Keine echten Menschen."
Sie biss sich auf die Lippe und nickte. "Ich weiß doch."
Dann wandte Mo sich wieder Blaze zu. "Bist du verletzt?"
"Nein, mir geht es gut. Aber ich wurde so müde, und dann wart ihr plötzlich weg. Ich ... ich hatte Angst, dass euch etwas zugestoßen wäre."
"Das war Lecter", Kassies Stimme klang nicht mehr kläglich, sondern selbstsicher. "Er kann einen irgendwie verhexen, dass man müde wird."
Mo schüttelte sich. "Kommt. Sehen wir zu, dass wir hier raus kommen. Ich möchte nicht herausfinden, wie viele alte Freunde hier noch herumlaufen!"
Erst, als Kassie ihm einen warnenden Blick zuwarf, bemerkte Mo, dass Blaze bei seiner Aussage zusammengefahren war und sich nun nervös umsah.