Diabetes, Teil 2:
Ein lautes Röhren hinter ihnen kündigte an, dass sich Diabetes aus seinen Fesseln befreit hatte. Entgegen seines besseren Wissens tastete Mo nach einem weiteren Seilwerfer, doch er hatte alle drei verschossen. Kassie warf ihm im Laufen einen panischen Blick zu. Die Verzweiflung stand ihr nur allzu offensichtlich ins Gesicht geschrieben.
Mos tastende Finger fanden den Lauf der Pistole, die Kassie ihm geliehen hatte. Er zückte die Waffe und sah Kassie an, dann Karo und Max, die einen kleinen Vorsprung hatten.
Sie mussten sich nicht absprechen. Kassie und Mo blieben gleichzeitig stehen, wirbelten herum und feuerten ihre Waffen auf das anstürmende Monster. Silber und Blei traf den purpurnen Kopf von Diabetes und das große Wesen brüllte vor Schmerz. Es wurde langsamer und schüttelte den Kopf, als wolle es nervende Fliegen verscheuchen. Kassie reichte Mo ein neues Magazin. Mit fast synchronen Bewegungen luden die zwei nach. Als sie wieder schossen, schnaubte Diabetes, senkte den gehörnten Kopf und ging zum Angriff über. Mo konzentrierte sein Feuer auf das linke Auge. Mit einiger Befriedigung sah er, wie schließlich dünnflüssiges, gelbes Blut aus dem geschlossenen Auge sprudelte, doch bei Diabetes' schmerzerfülltem Geheul hatte er bereits ein schlechtes Gewissen.
Trotz der Wunde kam das Wesen weiter auf sie zu. Kassie feuerte entschlossen auf das andere Auge. Der Boden unter ihnen bebte nun so stark, dass sie auf und ab geschleudert wurden, doch irgendwie konnte Kassie auch im freien Fall noch zielen und treffen.
Wieder heulte Diabetes auf, doch er beschleunigte noch. Mo fasste Kassie an der Hüfte, zog sie eng an sich und warf sich im letzten Moment zur Seite, als das nun geblendete Monster auf sie zu kam.
Mo warf sich auf eine Welle und spürte, wie der Boden gegen seine Rippen peitschte. Er und Kassie wurden in die Luft gewirbelt, nicht nur nach oben, sondern auch nach vorne, auf Diabetes zu, der an ihnen vorbei gerannt war. Mo streckte den freien Arm aus und bekam ein Horn des Wesens zu packen, eines jener Hörner, die seitlich aus dem massigen Kopf hervortraten und sich drehten wie ein dünnes Widderhorn.
Mo und Kassie rutschten in die Senke des großen Horns. Mo schnappte nach Luft. Der Aufprall auf den Boden und dann auf dem Horn hatte alle Luft aus seinem Körper gepresst. Er fühlte sich, als hätte er sich alle Rippen gebrochen.
Kassie dagegen stand auf, nahm Mo die Knarre ab und zückte zwei Magazine, eines für jede Waffe. Seelenruhig lud sie ihre spitzen Pistolen und richtete sie auf den Schädel von Diabetes, der vor ihnen aufragte.
"Was hast du vor?", ächzte Mo und kämpfte sich auf die Knie. Das Horn schwankte bei jedem Sprung, den Diabetes machte.
Kassie sah konzentriert auf den Boden und antwortete nicht. Mo merkte, dass sie das nahende Tor fixierte.
Dann, kurz bevor Diabetes das Tor am Ende des Wunderlands erreicht hatte, feuerte Kassie zwei volle Salven in seinen Schädel.
Diabetes röhrte, warf den Kopf hoch und strauchelte. Die acht Beine verhedderten sich, der massige Leib kippte nach vorne und auf die Seite - glücklicherweise nicht auf die Seite, wo Mo und Kassie im Horn hingen. Trotzdem verloren beide den Halt und stürzten auf die Wange des riesigen Monsters, knapp unterhalb der Wunde, die Kassie geschossen hatte, in klebriges, nach Eiter riechendes Blut.
"Igitt", Mo kämpfte sich hoch. Das dünne Blut rann ihm über die Brust, Arme und Beine. Er rutschte die Seite des Kiefers herunter und drehte sich um, um Kassie nach unten zu helfen, die jedoch ohne jede Unterstützung neben ihm landete.
Sie standen nur wenige Meter von dem Ausgang entfernt.
"Nächstes Mal fahre ich", keuchte Mo. Kassie beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und erbrach sich. Mo wankte zu ihr und hielt ihre Haare zurück, bis sie sich aufrichtete und keuchend ihren Mund abwischte. Langsam ließ das Schwanken des Bodens nach.
"Ich hab sein Gehirn gesehen", war das erste, was Kassie sagte. "Ich glaube, ich hab ein Stückchen verschluckt!"
Mo verzog angewidert das Gesicht. "In Zukunft lässt du den Mund zu beim Schießen."
Kassie würgte nochmals und erbrach einen dünnen Speichelfaden. "Ich will nach Hause."
"Ich auch", sagte Mo leise. Dabei stimmte das nicht. Er wusste, dass es kein Zuhause mehr für ihn gab. Er konnte nicht wieder in ein normales Leben zurückkehren. Er würde bei Sam und den Wächtern in der trostlosen, unterirdischen Basis bleiben, wenn er die Tour überlebte.
Er wollte trotzdem nach Hause, er wollte die Zeit zurückdrehen zu einem Zeitpunkt vor der ersten Hell-Hopping-Tour, als sein Leben noch in friedlichen Bahnen verlaufen war.
Er drückte Kassies Schulter und sie richtete sich durchatmend auf. "Wo sind Karo und Max?"
"Wir haben sie auf dem Karies-Taxi überholt, aber sie sollten bald hier sein", Mo blickte auf das bunte Wellenland, das sie nun hinter sich gebracht hatten. "Wollen wir ihnen entgegen gehen?"
"Mo, da hinten - am Wald!", Kassie schrie plötzlich und deutete aufgeregt.
Mo sah sofort, was sie meinte: Aus dem Schatten der Bäume strömten unzählige weiß-rote Wesen, eine richtige, wimmelnde Flut, die sich auf das Hüpfburgenland ergoss.
Die Soldaten der Herzkönigin hatten sie gefunden.