What’s in your head?:
„Sam!“, brüllte Mo, während er den Hügel herunter sprang.
„Elaine! Elizabeth!“ Kassie folgte ihm auf den Fuß und hinter den beiden kam der Enthinderer, den Blaze ausbremsen musste, um auf dem Hang nicht die Kontrolle über das Gefährt zu verlieren.
Am Fuß des Hügels, schon fast im Dorf angekommen, hielt Mo an. Kassie holte keuchend zu ihm auf.
„Ich sehe sie nicht mehr“, gestand Mo. „Sie sind zu weit oben.“
„Was war das?“, brachte Kassie hervor.
„Es sah aus wie Wurzeln“, berichtete Blaze. „Wo haben sie die drei hingebracht?“
„Irgendwo über das Dorf.“ Die Sonne ging inzwischen auf und Mo musste die Augen mit der Hand beschatten, um noch etwas zu sehen. Die langen Strahlen waren fast waagerecht. Er seufzte. Er hatte vergessen, dass er seit Neustem aus Glas bestand und seine Hand keinen Schatten mehr warf.
Nach und nach trudelten ihre restlichen Freunde ein, die die drei bei der überstürzten Verfolgungsjagd abgehängt hatten.
„Da ist ein Schatten über den Wolken“, erkannte Max. „Dort muss etwas sein.“
„Das ist doch unmöglich!“, sagte Karo. „Einen Helikopter müssten wir hören und ein Flugzeug kann nicht so lange an einer Stelle bleiben.“
Mo war erleichtert, dass er die drei Wächter immer noch nicht aus dem Himmel stürzen gesehen hatte. Offenbar hatten sie dort oben festen Boden unter den Füßen – wenn sie noch lebten.
„Wir sind doch noch in Phantasma, oder?“, warf Kassie ein. „Hier ist alles möglich, das betonen die Wächter doch immer wieder. Würde mich nicht wundern, wenn da oben ein ganzes Schloss schwebt.“
„Ich kann nicht verstehen, wie Sam noch nicht wahnsinnig geworden ist“, murmelte Mo leise. Er drehte sich um und sah Milo, gestützt auf die Glasgestalt von Eve, der mit bleichem Gesicht zu ihnen humpelte. Damit waren auch die letzten ihrer Gruppe eingetroffen. Mo bemerkte, wie Kassie stumm durchzählte.
„Das hätte in die Hose gehen können“, erkannte er selbst. „Wir dürfen uns nicht noch einmal aufteilen.“
„Das habe ich euch schon vor zwei Stunden gesagt, aber mir hört niemand zu“, brummte Max.
Karo warf dem Jungen einen finsteren Blick zu. „Weil unsere Freunde gerade entführt wurden, du Genie. Warum noch mal ist er bei uns geblieben?“
„Jetzt lasst ihn doch mal in Ruhe!“ Es war ausgerechnet die kleine, durchschimmernde Gestalt von Liam, der sich zwischen Karo und Max schob. „Er hat uns auch geholfen!“
Da konnte Mo nur zustimmen, indem er auf seine gläsernen Hände sah. Dank Max‘ Zauber konnte er wieder mit Kassie reden. Die ersten Minuten in der Geisterform waren ein Alptraum gewesen, in dem er schrie, ohne gehört zu werden. Das wollte er nie wieder erleben.
„Wir sind also beim Dorf angekommen“, sagte Kassie, vielleicht auch, um den drohenden Streit im Keim zu ersticken. „Dann können wir uns genauso gut ein wenig umsehen, oder nicht?“
Dem Vorschlag stimmten alle mehr oder weniger glücklich zu. Aus ihren bisherigen Erfahrungen hatten sie gelernt, sich nicht mehr aufzuteilen, und so durchsuchten sie Haus um Haus als große Gruppe. Viel gab es nicht zu sehen. Die Einrichtung war sich meist sehr ähnlich: bäuerliche Kommoden und Schränke aus dunklem, mit Blumen bemaltem Holz, einfache Betten oder Alkoven, offene Kamine, Regale mit Vorräten und zu Sträußen gebundenen Kräutern. Die meisten der kleinen, strohgedeckten Hütten hatten nur einen einzigen, großen Raum, seltener befanden sich Schlafnischen im Dachgeschoss statt im Wohnraum. Von Bewohnern war nichts zu sehen, auch die kleinen, angebauten Ställe und Weiden waren leer. Viele der Einrichtungsgegenstände wirkten wie kopiert, nur ihre Anordnung unterschied sich von Haus zu Haus. Mo fühlte sich in ein RPG versetzt. Doch was sie in den Schubladen von Schränken und Kommoden fanden, verdrängte die Vorstellung.
Nachdem sie ihre Skrupel, fremdes Eigentum zu durchwühlen, recht schnell überwunden hatten, fanden sie nicht etwa Kräuter, Kleidung oder Münzhaufen in den Schubladen, sondern allzu vertraute Gegenstände.
„Mein Handy!“, rief Eve etwa aus, oder Liam piepste: „Das ist doch mein altes Tamagotchi!“
Sie fanden Puppen, zu denen sich keiner bekennen wollte, verloren geglaubte einzelne Socken und einige Bücher, die Kassie vor Jahren verliehen und nicht zurückbekommen hatte.
Doch sie fanden noch mehr. In einer Schublade stieß Mo auf fünf nagelneue, glänzende Seilwerfer und Kassie fand ihre Inline-Skater wieder. Blaze entdeckt einen Ersatz-Greifarm für seinen Enthinderer, nachdem er den ersten am Tor verloren hatte. Und schließlich tauchte Karo aufgeregt mit einer Krücke auf: „Milo! Milo!“
Je mehr Häuser sie durchsuchten, desto nützlicher wurden die Gegenstände. Zusammen mit einigen Patronen für ihre Pistolen fand Kassie auch einen Brief von Andy Hill.
„Seht mal!“, sie rief ihre Freunde zusammen und las der Gruppe vor: „Ihr seid noch nicht entkommen! Ifrit ist zwar wie versprochen mit Asmodai gegangen und mischt sich nicht weiter ein, doch sie glaubt anscheinend, dass die Geschichte das Ihrige tut. Ihr seid im letzten Hotel. Wir versuchen, euch ein wenig Ausrüstung zu schicken. Das Passwort ist das Übliche. Sagt es einfach laut.“
Verwirrt sahen die jungen Tourgäste sich an.
„Passwort?“, fragte Mo.
„Der Brief ist an die Kittehz of Doom adressiert“, erkannte Kassie. „Aber Sam, Elaine und Lizzy sind nicht hier.“
„Dann müssen wir ihr Passwort erraten“, murmelte Blaze entmutigt. „Ob wir das schaffen?“
Sie versuchten ein paar Wörter aus, „Simsalabim“ und „Abrakadabra“, aber wirklich Hoffnung machten sie sich nicht. Stattdessen untersuchten sie die restlichen Häuser und trafen zu ihrer großen Verwunderung auf eine hochmoderne Garage, die sie nicht öffnen konnten.
„Ich würde mal sagen, das Passwort ist für dieses Ding“, riet Mo.
Kassie verdrehte die Augen. „Echt? Und wie sollen wir jetzt da rein?“
„He, hier ist ein Graffiti!“, rief Max, der das Gebäude einmal umrundet hatte. „Vielleicht ist es ein Hinweis.“
Die Gruppe folgte ihrem jüngsten Zugang und versammelte sich vor einem bunten Schriftzug.
„Nur so zur Information, es heißt Graffito, nicht Graffiti, wenn es nur eines ist“, bemerkte Kassie.
„Was steht da? Ich kann kein Englisch.“
Kassie übersetzte die Zeile für Blaze: „Was ist in deinem Kopf? Zombie! Zombie! Zombie!“
„Das ergibt doch keinen Sinn“, beschwerte sich Liam.
„Gehirn!“, rief Mo versuchsweise und lief zurück vor die Garage. Nichts öffnete sich.
„Eben nicht. Im Kopf eines Zombies ist nichts!“, gab Milo selbstsicher zurück. „Ich habe unzählige Splatterfilme gesehen.“
„Wartet!“ Kassie unterbrach weitere Diskussionen. „Ich glaube, ich weiß es jetzt. Das ist ein Lied. Wir haben es in Englisch gehört, erinnert ihr euch? What’s in your head – in your head?“ Sie sang die Zeile ihren alten Schulkameraden vor. Mo, Eve, Milo und Liam sahen sie nur ratlos an.
„Es ging um irgendeinen Krieg oder so … verdammt, wie hieß das Lied noch gleich?“
„Das war ‚Zombie‘“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. „Von den Cranberries.“
Mit Rucken und Poltern öffnete sich das Tor. Die acht Freund wirbelten herum. Da stand Dimitri Metschta vor ihnen, ganz so, als wäre kein Tag vergangen, seit er während der ersten Tour verschwunden war. Nur sein rechter Arm fehlte, den sie damals abgerissen im Keller gefunden hatten. Der Stumpf schaute aus dem Ärmel seines T-Shirts hervor.
„Wie geht es euch?“, fragte der beleibte Mann freundlich. Doch er musterte sie scharf.
„Er weiß nicht, wie viel wir schon wissen“, zischte Eve, sodass zwar ihre Begleiter, nicht aber Metschta sie hören konnte. „Vielleicht können wir ihn täuschen!“
„Dimitri!“, rief Kassie, die sofort schaltete. „Du lebst!“ Sie lief erfreut auf den Autoren zu. Als sie an Mo vorbei kam, zischte sie: „Die Garage. Schau in die Garage!“