Dämonenzorn:
Sam schleifte Mo über den gewellten Asphalt zu seinem gefleckten Pony. Kassie stolperte beiden hinterher und tastete hilflos nach Mos Füßen. Sie würde Sam gerne helfen, ihren reglosen Freund zu tragen, aber gleichzeitig widerstrebte es ihr, Mortimers schlackernde Füße anzufassen und sie war sich sicher, dass sie Sam nur verlangsamen würde.
Bei dem schnaubenden Samsung angekommen, kamen ihnen Elizabeth und Elaine entgegen. Die braunhaarige Xeri, auf dem Rücken von Luzifer kauernd, hielt die Zügel von allen drei reiterlosen Pferden. Sie war blass, ihr Blick wirkte abwesend.
Elizabeth nahm Mo entgegen und hielt ihn fest, die Arme unter Mos Achseln geschoben und seinen Kopf an ihrer Schulter ruhend. Sam sah sie einen Moment an.
"In den Sattel, na los." Elaine schnippte mit den Fingern und Sam besann sich. Als er auf Samsungs Rücken saß, hievten die beiden Mädchen Mo vor ihn in den Sattel. Sam schlang einen Arm um Mos Hüfte und richtete den bewusstlosen Jungen so auf, dass sein Kopf nicht allzu wild hin und her rollen konnte.
"Kassandra, du reitest mit Lizzy", befahl Elaine und schwang sich elegant auf den ungesattelten Rücken ihres Friesen. Kassandra stolperte zu Elizabeth, deren Pony noch kleiner als Samsung war. Sie fragte sich, ob ein so kleines Tier wirklich zwei Reiter tragen konnte, aber die einzigen anderen Optionen waren der temperamentvolle Luzifer und der riesige, pechschwarze Nachtwind, und vor beiden hatte Kassie große Angst.
Elizabeth reichte ihr eine Hand und half ihr, sich hinter den Sattel von Sandsturm zu platzieren.
Luzifer stieg wiehernd auf die Hinterläufe, als Xeri ihn herum riss. Die anderen Pferde folgten, und im Nu waren sie im gestreckten Galopp auf der Flucht. Kassie hatte kaum Gelegenheit gehabt, sich an Elizabeth zu klammern.
Die buschigen, braunen Locken ihrer Vorreiterin schlugen ihr ins Gesicht. Von hinten erklangen Wiehern und Schreie.
"Wir sind zu langsam!", brüllte Elaine, die einen Blick nach hinten riskiert hatte.
Kassie wandte sich ebenfalls um und ihr Herz setzte einen Schlag aus: Der große Tiger war hinter ihnen her und verfolgte die sturmgraue Rea Silvia, deren leerer Sattel rot von frischem Blut war. Das Kaltblut scherte zur Seite aus und rettete sich in eine Seitengasse, Ifrit stürmte an dem Tier vorbei - sie verfolgte die vier flüchtenden Pferde mit ihren sechs Reitern.
"Schneller, Sandsturm", sagte Elizabeth leise zu dem falben Pony und peitschte es mit dem Zügelende. "Komm schon, zeig, was du drauf hast."
"Mo ...", murmelte Kassie, als Sandsturm tatsächlich schneller wurde und Samsung hinter sich ließ.
Doch Luzifer und Nachtwind waren noch schneller. Erstaunt sah Kassie, wie der schwere, schwarze Hengst das dunkelbraune Vollblut sogar überholte. Xeri und Elaine beugten sich beide tief über den Pferdehals. Kassie sah wieder zurück und spürte Panik aufsteigen. Sie würden Mo zurücklassen! Samsung konnte einfach nicht mithalten.
Als sie wieder nach vorne sah, waren die beiden dunklen Pferde weit vor ihnen. Elaine und Xeri tauschten Blicke. Dann rissen beide Reiterinnen ihre Reittiere im selben Moment herum.
Die Hufe schlugen Funken auf der Straße, als die Tiere hart wendeten. Elaine streckte den linken Arm zur Seite, Xeri den rechten, sodass sie beide nach außen zeigten. Aus Elaines Handfläche brach ein hellblauer Feuerstrahl hervor, während Xeri lediglich einige kleine, bunte Gegenstände warf - sie sahen wie Zauberwürfel aus, vermutlich Waffen von Piek.
Die Würfel rollten über die Straße zu dem Fuß eines Gebäudes, dann explodierten sie mit lautem Krachen.
Sandsturm donnerte zwischen den beiden stehenden Pferden hindurch und Elizabeth bremste das kleine Pony sachte aus. Sie blieb stehen und wendete einige Meter hinter den beiden Reiterinnen.
Auch Elaines Flammenstrahl richtete sich auf den Fuß eines Gebäudes. Kassie erkannte, wie die Spitzen der heruntergekommenen Wolkenkratzer zu schwanken begannen. Schon neigten sich die Gebäude einander zu wie Freunde, die sich umarmen wollten. Scheiben fielen aus ihren Rahmen und zerbarsten auf der Straße rund um Sam, Mo und Samsung.
"Oh nein", hörte Kassie von Elizabeth. Die Braunhaarige sah nach oben und Kassie folgte dem Blick, nur um zu sehen, wie weitere Gebäude zu schwanken begannen. Die ganze Straße geriet in Bewegung.
Sam war fast bei den beiden Stehenden angekommen, wo er wohl nach dem Plan der Wächter in Sicherheit wäre, doch nun stürzte weiteres Glas auf die Erde.
"Vorwärts!", brüllte Elizabeth und trieb Sandsturm nach vorne, direkt auf die drei anderen Pferde zu, und den Tiger, der Sam unbeirrt folgte und schon nach den Hinterläufen von Samsung schnappte, ohne sich um den Glasregen zu kümmern.
Elizabeth stieß eine Hand nach vorne und Kassie, die sich an ihren Rücken schmiegte, konnte die kraftvolle Welle spüren, die durch Elizabeths Körper lief.
Dann verklang der Lärm plötzlich und alles war still. Sandsturms Bewegungen wurden langsam, obwohl er immer noch weite Sprünge machte – er schwebte durch die Luft, als wenn er durch Wasser schwömme. Kassie keuchte testweise, doch ihr Atem hatte eine normale Geschwindigkeit. Dafür fiel das Glas um sie her träge zu Boden, zersplitterte in langen Sekunden und die Splitter tanzten wie Staubwolken in einem nachmittäglichen Sonnenstrahl.
Um Kassie, Elizabeth und Sandsturm, und auch um die drei anderen Pferde und ihre Reiter, flatterten kleine Wolken von Schmetterlingen in allen Farben des Regenbogens, winzige, fragile Kreaturen, die nur aus Licht zu bestehen schienen. Die meisten hatten allerdings blaue Flügel mit schwarzem Rand, was Kassies Eindruck von einer Welt unter Wasser noch verstärkte.
Elizabeth hielt Sandsturm wieder an, an einem Flecken der Straße, über dem nur der Himmel zu sehen war.
"Pass auf Splitter auf", wies sie Kassie an. Ihre Stimme war normal und als sie über Sandsturms Mähne strich, schnaubte das Pferd und seine Bewegungen passten sich Karos Rhythmus an.
Sie war vollkommen verwirrt. Es erschien ihr unpassend, dass Elizabeth noch genauso sprach wie vorher, während die Glasscheiben wie träumende Fische um sie her sprangen.
Die anderen drei Pferde trabten ebenfalls normal – oder eben verschnellert – durch den tödlichen Regen, wichen langsam fallenden Scheiben und Gebäudeteilen aus und trotteten von Schmetterlingen begleitet zu Elizabeth.
Eine Staubwolke wallte langsam und gemütlich um den wie eingefroren springenden Tiger auf, das das erste riesige Gebäude auf die Straße krachte, langsam wie in einem Traum. Kassie berührte eine der Scherben, an denen sie vorbei kamen. Doch obwohl es so aussah, als würde sie schwerelos schweben, war es ihr nicht möglich, das Ding zu verschieben. Stattdessen schnitt die stumpfe Scheibe ihr in die Finger. Sie zog die Hand zurück.
Elizabeth wendete Sandsturm und führte die anderen durch die verlangsamten Trümmer in eine Seitengasse, fort von der Zerstörung. Auch hier lief die Zeit langsam, auch wenn man es nicht so gut erkennen konnte: Kassie sah Müll, der wie in Trance durch die Luft gewirbelt wurde, und eine fette Taube, die sie entdeckte und abhob, während die Pferde schon an ihr vorbeigegangen waren.
Plötzlich sackte Elizabeth mit einem Keuchen vornüber und ein gewaltiges Tosen erklang aus der breiteren Straße hinter ihnen, gefolgt von einem wütenden Knurren. Eine Staubwolke wallte aus der Gasse, die sie verlassen hatten, der Boden zitterte eine ganze Weile, bis das Getöse verklang. Kassie spürte, wie die Braunhaarige vor ihr schwankte, doch sie fing sich wieder und richtete sich auf.
"Was ist mit Mortimer?", fragte sie.
Alle Blicke richteten sich auf den Bewusstlosen vor Sam im Sattel, der kein Lebenszeichen von sich gab. Sam glitt vom Pferderücken und zog Mo vor sich auf den Boden.
Xeri und Elaine eilten zu ihnen.
Elaine blieb neben Elizabeth stehen. "Geht es dir gut?"
"Es geht schon." Elizabeth nickte.
"Ihr beiden müsst Wache halten. Ifrit ist aufgehalten, aber noch nicht besiegt."
Elizabeth nickte wieder, offenbar zu erschöpft für Worte. Kassie spürte Elaines stechenden Blick auf sich, als sie die nächsten Worte mehr an sie als an Elizabeth richtete: "Passt gut auf, egal was mit Mortimer passiert. Ifrit darf uns nicht überraschen."