Drachentanz:
Milo hörte einen gellenden Schrei und drehte sich um: „Kassie!“
Sie hing in der Luft, dank der Flügel und der Eisenkette, die Max ihr gegeben hatte. Während die Drachen mit viel Getöse in ein Gebäude krachten, wallte eine gigantische Staubwolke auf, die Kassie verschluckte, trotzdem sah Milo, dass ihre Haare lichterloh in Flammen standen.
„Sieh nach vorne!“ Max packte Milos Kinn und zwang ihn, den Blick auf die rissige Asphaltstraße zu richten. Er bremste das Motorrad aus, bis es zu kippen drohte, und stellte den heilen Fuß auf den Boden. Kassie fiel neben sie, als sie nicht mehr genug Schwung hatte, um an den Flügeln durch die Luft zu gleiten. Max machte eine schnelle Bewegung und ein Eisenstrahl zischte durch die Luft. Er durchtrennte Kassies Haare nah am Kopf, sodass die brennenden Strähnen vom Wind mitgetragen wurden.
Kassie kam stolpernd auf dem Boden auf und fasste sich zuerst an den Kopf. Doch das Feuer war erloschen.
Milo spürte das Blut in seinem verletzten Bein pochen. Ihm war schlecht und er zitterte genau wie Kassie.
„Steh auf. Es ist nichts passiert“, sagte Max. Dann klopfte er Milo auf die Schulter. „Wir sollten weiter, ehe -“
Es knisterte im Funkgerät: „Okay, Freunde. Blaze? Du musst den silbernen Drachen loswerden. Konzentrier dich auf den blauen. Max, du bist der einzige, der den silbernen Panzer durchdringen kann. Kassie, du musst den roten Drachen zu uns locken.“
Liams Stimme klang dünn und nervös, aber seine Befehle wurden selbstsicher erteilt. Milo atmete tief durch. Es war noch nicht vorbei. Er schluckte, um die Übelkeit zu vertreiben. Es gelang ihm nicht.
„Habt ihr verstanden?“, fragte Liam nach.
„Ja“, antwortete Kassie, die ganz nach Max‘ Befehl wieder aufstand und ihre nun sehr kurzen Haare ordnete. „Alles klar.“
„Mo, du setzt den roten Drachen fest“, gab Liam den nächsten Befehl.
„Auf sie mit Gebrüll!“, dröhnte Mos Stimme durch die Walkie-Talkies der Freunde. Kassie lächelte und Milo erwiderte es.
„Auf sie mit Gebrüll“, sagte Liam.
„Viel Glück“, sagte Milo zu Kassie.
„Wir können dich noch in die Luft bringen“, bot Max an. Kassie nahm das Angebot mit einem dankbaren Nicken an.
Milo startete das Motorrad und fuhr los. Er spürte einen Ruck, als die Kette sich straffte und Kassie kurzerhand in den Himmel beförderte, wie bei einem Segelflugzeug. Er spürte auch, wie Max die Kette löste, um sich dann an seinen Rücken zu klammern. „Zum silbernen Drachen!“, brüllte der Junge ihm ins Ohr.
„Ich weiß!“
Milo gab noch mehr Gas. Hinter sich hörte er lautes Brüllen. Er wollte zurücksehen.
„Konzentrier dich auf unsere Mission!“, befahl Max barsch. „Die anderen kommen zurecht.“
Milo richtete den Blick wieder nach vorne. Er fühlte sich benommen, vielleicht durch den Blutverlust. Die Wunde war zwar verbrannt worden, sodass sie nicht mehr blutete, doch Schock und Schmerzen ließen nicht nach. Das Headset drückte ihm unter dem Helm unangenehm auf die Ohren.
Etwas kam schnell auf sie zu. Es war Blaze. Der Rollstuhlfahrer warf Max und Milo einen schnellen Blick zu, als er an ihnen vorbei rauschte.
Der silberne Drache folgte am Himmel. Er war zu groß, um nah an der Straße fliegen zu können.
Milo spürte, wie Max sich aufrichtete. Im nächsten Moment schoss ein Hagel spitzer Metallpfeile auf den Drachen. Die riesige Echse brüllte auf und hielt einen Moment in der Luft inne. Dann ließ sie den Schwanz nach unten krachen, der in einer stacheligen Keule endete. Milo riss am Lenker, um dem Angriff zu entgehen. Kleine Steinbrocken regneten auf sie. Tiefe Risse zogen sich durch den Boden. Der Drache brüllte und ließ von Blaze ab, um nun sie zu verfolgen.
Milo beugte sich über den Lenker. Max drehte sich offenbar hinter ihm und feuerte nach hinten. Dann spürte Milo einen schmerzhaften Griff an der linken Schulter. Er riss den Lenker herum und ein Strahl spitzer Metalldornen verfehlte sie nur knapp, um sich wie ein schräger Zaun in den Boden zu bohren.
„Wir müssen weiter nach oben!“, schrie Max und griff Milo in den Lenker, um ihn in ein Haus zu führen. Panisch versuchte Milo, die Kontrolle zu behalten, als sie durch eine Tür bretterten. Ein wuchtiger Schlag zerstörte den Eingangsbereich hinter ihnen.
„Da, der Aufzug!“, befahl Max und Milo fuhr gehorsam auf den geräumigen, von Glas umgebenen Aufzug zu. Max betätigte den Knopf, die Türen glitten auseinander. Dann waren sie im Inneren.
Der Aufzug befand sich an der Außenseite des Gebäudes und glitt langsam nach oben. Max und Milo bekamen eine schöne Aussicht auf die zerstörte Stadt, über der noch der blaue und der rote Drache tobten, die sich inzwischen offenbar von dem Zusammenprall erholt hatten. Der Blaue war zwischen hohen Gebäuden eingesperrt und stand unter heftigem Beschuss von Kassie und Karo. Der rote Drache musste ein flinkes Hindernis verfolgen, offenbar den Enthinderer. Blaze war nicht zu sehen, nur der Flug des Drachen über den Häusern ließ darauf schließen.
Die Aufzugtüren öffneten sich und Milo brauste hinaus auf einen Dachgarten, der inzwischen verwildert war. Gleichzeitig hob sich der silberne Drache auf ihre Höhe und funkelte sie an. Er öffnete das Maul und Metallblitze schossen heraus. Milo scherte nach rechts aus und sah das Ende des Dachs vor sich. Er wollte bremsen.
„Fahr weiter!“, brüllte Milo. „Wir müssen neben ihn kommen!“
Der Drache nahm neben ihnen die Verfolgung auf. Milo spürte die Flügelschläge über sich und im Rücken. Sie drückten ihm die Luft weg. Er fuhr auf den Rand zu und überlegte, ob er nicht lieber die Augen schließen sollte. Da streckte Max einen Arm an ihm vorbei nach vorne und … und vom Dach erhob sich ein fast durchsichtiger Bogen aus schimmerndem Glas, eigentlich nur durch den abprallenden Regen zu sehen. Eine künstliche Straße. Milo fasste Mut und erhöhte das Tempo. Sie rasten über den glatten Untergrund in die Höhe, schon zerstörte ein Flügelschlag das Glas hinter ihnen. Max erschuf die Straße erst wenige Meter vor Milo, sodass er auf jede schwache Kurve vorbereitet sein musste. Hochkonzentriert folgte er dem Verlauf nach oben und näher zum Drachen. Plötzlich war das hasserfüllte, schwarze Auge direkt neben ihnen.
„Hasta la Vista!“, sagte Max und feuerte direkt in dieses Auge. Blut spritzte auf, trotzdem sah Milo genau, wie der Metalldorn bis hinter das Auge in den Kopf eindrang.
Der Drache heulte nicht auf. Er klappte einfach das Auge zu und fiel leblos, wie eine riesige Puppe, aus dem Himmel. Während Max die Glasstraße nach unten gleiten ließ und Milo jeder Bewegung folgte, krachte der Drache ohne Widerstand auf die Straße, zog einen Graben hinter sich her und blieb schließlich liegen, den gehörnten Kopf zur Schulter hin verdreht und ohne jede Regung.
Die Reifen des Motorrads setzten auf der Straße auf. Milo atmete tief durch.
„Gut gemacht!“, ertönte Liams Stimme. „Aber ihr müsst von der Straße runter.“
„Warum?“, fragte Max zurück.
„Wir haben ein neues Problem.“
Milo sah auf. Vor ihnen schob sich eine Art brauner Welle über die Erde. Eine Welle aus tausender kleiner, doch übernatürlich schneller Wesen: Ratten!
„Nach oben!“, sagte Max.