Everybody wants to go to Heaven:
Inzwischen stand sie eigentlich gerne in der ersten Reihe. Kassie wusste, dass die meisten ihrer Freunde noch nicht besonders kampferfahren waren. Blaze und Mortimer hatten mit ihr unzählige Gefahren bestanden. Es fühlte sich an, als wären sie erwachsener, stärker, mutiger als der Rest ihrer tapferen Gruppe. Sie hatte das Bedürfnis, ihre Freunde zu beschützen, egal, was da aus dem Nebel kommen mochte.
Doch während sie neben Blaze stand und in die graue Suppe starrte, auf das leise Klimpern hörte, das ihre Nerven sich bis zum Zerreißen spannen ließ, verspürte sie ein Grauen, das sie sich nicht erklären konnte. Schon lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gespürt – seit der ersten Tour nicht mehr, da war sie sich ziemlich sicher. Sie hatte nicht nur Angst, sie fühlte sich hilflos, überfordert und am Ende ihrer Kräfte und Hoffnung. Das Klingeln kam gemächlich näher, als bereite es dem Urheber diebische Freude, sie auf die Folter zu spannen.
Drachen und Ratten … Metschta hatte feststellen müssen, dass sie sowohl mit kleinen als auch mit großen Gegnern fertig wurden. Was mochte er jetzt schicken? Langsam gingen ihnen die Waffen aus.
Dunklere Schatten kristallisierten sich aus dem Nebel heraus. Sie sahen aus wie Menschen. Wie ganz normale Menschen sogar.
Vielleicht waren es die Wächter, die endlich zu ihnen gekommen waren. Vielleicht war der Alptraum endlich vorbei!
Die erste Gestalt kam in Sicht und Kassie überlief es eiskalt. Sie konnte sich nicht rühren, nicht atmen und nicht denken.
Als würde sie in einen Spiegel sehen. Das war sie! Ein rothaariges, sportliches Mädchen, mit Inline-Skatern und zwei schlanken Pistolen in den Händen. Nur ihre grünen Augen funkelten voller Bosheit.
Verständnislos starrte Kassie die andere Kassandra an.
„Dieser Mistkerl Metschta!“, zischte Max.
Weitere Personen tauchten auf, insgesamt acht. Da war Eve, die zwei brennende Kugeln an langen Fäden neben sich her trug und vom Rauch umweht wurde. Milo, mit zwei gesunden Beinen, einem Katana und einem teuflischen Lächeln. Karo mit einer Panzerfaust im Anschlag, die sie locker auf der Schulter trug.
Ohne es zu wollen, ließ Kassie die Pistolen sinken. Ein Mortimer-Spiegelbild sah sie verächtlich an. Er trug bestimmt zwanzig Seilwerfer am Gürtel. Ihre Gegner in der finalen, dritten Runde waren sie selbst – bessere, stärkere Versionen ihrer Selbst.
Konnte sie wirklich auf etwas schießen, das ihren Freunden so täuschend ähnlich war? Was, wenn sie sich täuschte und die falsche Person erschoss? Konnte sie ihren Sinnen wirklich noch vertrauen.
„Verschwindet!“, kreischte Karo – die echte Karo – hysterisch und feuerte die Panzerfaust ab. Die Rakete zischte über Kassies Schulter auf die Spiegelbilder zu, doch …
Statt inmitten der acht Spiegelwesen zu explodieren, verschwand die Rakete urplötzlich. Dann spürte Kassie eine Druckwelle im Rücken und hörte einen ohrenbetäubenden Krach. Sie wurde nach vorne geworfen, an den Asphalt gepresst. Hitze spülte über ihren Rücken hinweg. Panisch tastete sie nach ihren Haaren, im festen Glauben, dass sie erneut in Flammen standen – nichts.
Hustend rappelte sie sich auf und sah nach hinten. Ein Bild der Zerstörung: Karo lag reglos inmitten eines großen, rauchenden Kraters, Milo und Eve waren an den Rand geschleudert worden, Blaze‘ Enthinderer auf der anderen Seite tief in den Boden getrieben. Er hämmerte auf das Bedienpult, konnte sich aber nicht mehr bewegen.
Wut wallte in Kassie auf.
„Lasst sie in Ruhe!“, brüllte sie und schoss auf ihr eigenes Spiegelbild.
Ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Arm, so heftig, dass sie beide Waffen fallen ließ und auf die Knie ging. Sie umfasste den Unterarm und spürte warmes Blut. Und eine Schusswunde.
Sie keuchte. Der Schmerz wurde zu einem dumpfen Pochen, gleichzeitig wurde auch die Welt gedämpft. Bewegungen erfolgten in Zeitlupe, Wörter oder gar Sätze waren nicht mehr zu verstehen. Kassie schüttelte den Kopf, die Welt schwankte um sie her. Als sie wieder aufblickte, stand Max vor ihr und erschuf einen Schutzschild aus Glas, den die Metalldornen seines Spiegelbildes mühelos durchdrangen. Sie nagelten den Jungen an den Boden, Blut trat aus unzähligen kleinen Wunden.
Seilwerfer zischten wie träge Schwalben durch die Luft. Es war so ähnlich wie der Moment, als Kassie in dem Zauber von Elizabeth gefangen gewesen war, als die Welt für alle außer sie selbst langsamer ging. Doch sie konnte sich nicht schneller bewegen.
Ein Blinzeln, das unendlich lange gedauert haben musste: Plötzlich sah sie in Mortimers aufgerissene, blaue Augen. Er war von Seilwerfern umgeben an den Boden gepresst worden, ein Draht schnitt ihm tief in die Kehle. Er japste nach Luft und flehte Kassie mit den Augen um Hilfe an.
Sie wollte etwas sagen, die Hand ausstrecken, irgendwas tun … sie konnte es nicht. Blut lief über ihren Arm, über ihr Bein. Doch mehr noch als das verspürte sie eine unendliche Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit. All die Schrecken, all die furchtbaren Hotels und Taten – wofür? Sie sah das Gesicht von Lecter, den sie getötet hatte, von Anna van Helsing, die ihr die Armbrust an die Brust gesetzt und abgedrückt hatte. Aus allen Taten sprach eine hoffnungslose Verzweiflung, ein Klammern an den letzten Bindfaden, an jedes ‚vielleicht so‘.
Vielleicht können wir Ifrit und Asmodai so besiegen … vielleicht können wir die Tour so zerstören … vielleicht können wir so überleben.
Nein. Kassie sah auf. Es war alles umsonst. Sie konnte niemanden beschützen. Je mehr man während der ganzen schrecklichen Geschichte gewann, desto bitterer war am Ende die Niederlage. Jedes Aufbegehren hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
Ihre Freunde waren gefallen. Nur Liam stand noch, und Blaze, dessen Rollstuhl sich jedoch nicht länger steuern ließ. Offenbar war ihm nun auch die Munition ausgegangen oder die Abzüge für die Waffen funktionierten nicht mehr. Alles, was sie gewonnen hatten, war ihnen genommen worden.
Dunkelheit füllte Kassies Kopf und legte sich über ihre Augen. Sie spürte noch, dass sie fiel.
Dann nichts mehr.