Wenig später, als ich Kitsune, Naru und Keitaro treffen wollte, wurde ich
von selbigen und allen anderen aus dem Ryokan im Foyer aufgehalten. Tomoe saß mittendrin und bedachte mich immer noch mit diesem Blick des Entsetzens.
„Sagt mal was habt ihr denn alle?“, fragte ich gelangweilt.
„Genau das selbe könnten wir dich Fragen, Idiot.“, erwiderte Tomoe im scharfen Ton.
„Tomoe hat uns gerade erzählt, was in deiner Familie vorgefallen ist.“, warf Keitaro ein.
„Das muss jetzt eine schwere Zeit für dich werden.“, sagte Kanako.
Alle wirkten so merkwürdig deprimiert und sie alle starrten mich mit diesen betretenen Blick an. Doch das alles änderte sich schlagartig, als ich meine Antwort darüber preis gab.
„Hört zu: Ja mein......“, Tomoe blitzte mich an und versuchte mir in Zeichensprache zu sagen, welche Worte ich nun verwenden sollte, “Halbbruder, ist letztes Jahr in Kamakura nach einer Herz-OP gestorben, aber ich habe ihn kaum gekannt. Es mag sein das er Kaede letztes Jahr besucht hat und ja die beiden kamen nicht sonderlich gut miteinander aus. Aber ich habe nicht so viel mit ihm zu tun gehabt.“
Tomoes Schultern bebten und ich konnte sehen wie ihre Faust zitterte.
Die anderen jedoch waren weder geschockt, noch verärgert. Kitsune kam zu mir und umarmte mich.
„Wir sind für dich da.“, sagte sie sanft.
Als sie wieder von mir ablies, war ich leicht verwirrt. Ob es daran lag, dass ich ein Diclonius war und somit nicht mit sowas umgehen konnte? Ich meine, ich hatte zwar schon einige Verluste zu beklagen, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich dem lange nachtrauern musste. Als ich erfuhr, dass Kurama, ob man ihn nun als meinen „Freund“ oder Verbündeten ansah, nach meiner Erweckung schon lange tot war, war ich zwar bestürzt darüber aber ich habe nie wirklich deswegen getrauert. Denn er hatte mir die Aufgabe gegeben, auf Nana aufzupassen. Ich wusste also, dass ich ihm noch immer was schuldig war, denn er wollte mir ja immer helfen.
„Mag sein, dass er nur dein Halbbruder war, aber er hat trotzdem zu deiner Familie gehört.“, sagte Shinobu.
„Jeder geht mit Trauer anders um, aber dass du dich jetzt hier hinstellst und uns erzählen willst, dass du keine Trauer oder kein Gefühl des Verlusts empfindest........das macht uns ein bisschen Sorgen.“, sagte Naru.
Ich schüttelte den Kopf.
„Und jetzt lasst ihr euch mal eines gesagt sein.“, sagte ich mit ernster Mine, “Ihr habt Saki nicht gekannt und ich auch nicht. Zumindest, nicht so wirklich. Es ist meine Familie und mein verdammtes Problem dass ich lösen muss. Nicht eures. Also können wir jetzt bitte wieder zur Normalität zurückkehren? Wenn Kitsune, Naru und Keitaro noch Lust haben, sich mit mir die Gegend etwas genauer anzusehen, dann bitte von mir aus gerne. Aber hört auf mir vorzuschreiben wie ich mich bei der ganzen Sache fühlen soll.“
Mit diesen Worten, lies ich sie leicht erschrocken zurück und ging nach draußen. Tomoe kam mir kurz darauf hinterher und Shinobu, wollte sie noch kurz aufhalten.
„Warte, was hast du denn jetzt vor?“, fragte sie.
„Na was glaubst du wohl?“, konterte Tomoe,“Ich werde ihm beibringen, dass er sich glücklich schätzen soll, dass ihr zu ihm haltet und ihn aufbauen wolltet. Er hat nicht das Recht, so mit euch zu reden. Na warte!“
Und damit, verschwand sie auch hinter der Haustüre.
„Oh je, ob das gut geht?“, fragte Muzumi.
„Die Frage kann ich dir mit Leichtigkeit beantworten.“, rief Kaede.
Alle drehten sich erschrocken um und erblickten Kaede, die oben auf dem Treppenabsatz stand und die ganze Situation sorgsam beobachtet hatte.
„Warum bist du dir da so sicher?“, warf Motoko ein.
Kaede kam zu ihnen hinunter und stellte sich mit verschränkten Armen und dunkler Mine vor ihnen hin.
„Kannst du uns vielleicht erklären, warum Rayo so.......naja, du weißt schon....“, sagte Kanako.
„So hat er mit uns bis jetzt, noch gar nicht gesprochen.“, erwiderte Su.
Kaede schüttelte den Kopf und blickte sie alle der Reihe nach an.
„Wenn ihr ihm diese Masche so leicht abkauft, dann müsst ihr schon ziemlich naiv sein.“, sagte sie herablassend.
„Wieso denn Masche? Er hat uns klar und deutlich gesagt, dass wir uns raushalten sollen.“, sagte Keitaro.
„Dann bist du der naivste von euch allen.“, sagte die Königin, “Es mag sein, dass wir uns nicht sonderlich gut verstehen, oder uns jedes kleine Geheimnis erzählen, aber wir haben immer noch ein gewisses Maß an Respekt füreinander. Seine Psyche steht jetzt vor dem Zusammenbruch. Er ist am Ende. Wartet nur ab. Der wahre Sturm wird noch kommen, dass könnt ihr mir glauben.“
Tomoe fand mich nicht direkt beim Eingang zum Ryokan, sondern weiter hinten beim Bordstein. Ich saß mit einem leeren Gesichtsausdruck am Straßenrand, nahm hin und wieder eine Hand voll Dreck und lies sie vom Wind verwehen. Das gleiche tat ich mit ein paar Grashalmen. In mir, drehte sich alles und spielte komplett verrückt. Unzählige Gefühle versuchten sich mir gleichzeitig aufzudrängen, doch mein Körper wusste nicht, welches er zuerst aufnehmen sollte. Einen Moment lang wünschte ich, dass meine Mutter anwesend wäre, um mir zu helfen und mir zu erklären, was das alles zu bedeuten hatte.
„Ich kann es einfach nicht glauben!“, hörte ich Tomoe hinter mir vor Wut schnauben, “Da denke ich, dass du endlich mal so etwas wie Gefühle zeigen kannst und dann haust so so was raus!“
Ich stand auf und versuchte ein Taxi zu rufen, doch die ersten Versuche misslangen mir.
„Ob die mich mit Absicht ignorieren?“, murmelte ich und versuchte es weiter.
„Was stimmt nur nicht mit dir?! Du springst von einer Dummheit sofort in die nächste! Und dann wunderst du dich noch, dass sich alle um dich sorgen. Aber nein, dir ist ja alles egal. Du ignorierst einfach alles und gräbst es immer tiefer in dich hinein und lässt absolut niemanden an dich ran!“
Als dann endlich ein Taxi anhielt und der Fahrer mich fragte wohin ich wollte, versuchte ich nun Tomoe etwas zu sagen, doch sie lies mich vorerst nicht.
„Könnte ich......“
„Nein! Nein, du kannst dich jetzt nicht so einfach nach Shinjuku zu deiner Mutter verdrücken und das ausbaden! Hast du vergessen, dass wir hier versuchen uns eine Zukunft aufzubauen und das wir jetzt Freunde haben, die uns unterstützen? Willst du jetzt so einfach das Handtuch werfen?!“
Ich jedoch blieb ruhig und atmete tief ein.
„Ich möchte, dass du mich nach Kamakura zum Friedhof begleitest.“, sagte ich entschlossen.
Verwirrt starrte sie mich an und bat den Taxifahrer noch einen Moment zu warten.
„Wofür? Was hast du jetzt schon wieder vor?“, fragte sie.
„Ich will Sakis Grab besuchen und mich von ihm verabschieden.“
Sie zuckte kurz zurück und sofort war ihre Wut auf mich verblasst. Dann nickte sie und rief kurz im Ryokan an.
Jetzt, springen wir wieder zu dem Punkt, an dem diese traurige Geschichte begonnen hatte. Wir standen vor Sakis Grab, das Gewitter hatte einen seiner Höhepunkte erreicht und all unsere Kleider waren durchnässt. Unter mir hatte sich ein Ozean gebildet, der alles zu überschwemmen drohte. Meine Knie und Unterlippe zitterten und ein immer größer werdender Schmerz, der sich immer tiefer und tiefer in mein Herz hineinbohrte, lies mich zu Boden sinken und die Fäuste in den Dreck fallen.
"Willst du noch hier bleiben?", fragte meine Mitbewohnerin sanft neben mir und legte mir eine Hand auf die Schulter, "Brauchst du noch eine Weile?"
Ich atmete tief durch, starrte in den Himmel und suchte verzweifelt nach einer Antwort, aber sie war schneller. Denn als ich zusammen klappte und ich im Ozean versank, der sich durch den Regen immer weiter ausbreitete, kam sie auf meine Augenhöhe und umarmte mich, als ich meine Tränen nicht mehr zurück halten konnte. Und ich war dankbar für ihre Nähe, für ihre Fürsorge. Aber warum weinte ich nun? Etwa deswegen weil ich Saki, also einen Klon von mir, verloren hatte? Oder etwa, weil ich wusste dass die Tatsache, das er nun nicht mehr da war um Nana und Mayu zu beschützen? In Wirklichkeit, konnte ich es nicht wirklich sagen. Aber es musste noch mehr dahinter stecken.
Gegen Abend kamen wir wieder beim Ryokan an. Alle konnten mich schon von draußen Hören, wie ich meine Trauer aus Leibeskräften herausbrüllte und es einfach nicht wahrhaben wollte. Doch sie ließen Tomoe und mir noch einen Moment. Als sie mich wieder umarmte, legte ich meinen Kopf in ihre Nackenbeuge und krallte mich an ihr fest.
„Es tut mir Leid, Rayo.“, wimmerte sie, “Wie.....kann ich dir nur helfen, du.....Holzkopf?“
Der Schmerz in meinem Herzen wurde schlimmer und ich lies mich von ihr nach drinnen führen, wo Shinobu uns schon empfing und mich mit offenen Armen begrüßen wollte. Doch dann, setzte mein Herz aus. Alles schwankte vor mir, kippte auf die Seite und plötzlich hörte ich ihre Schreie. Zwar zitterte ich immer noch, konnte mich aber von selbst nicht bewegen. Die Tränen hörten nicht auf zu fließen und als Su mir einen Gefallen tun und mir mein Lieblingsessen unter die Nase rieb um mich aufzuwecken, rührte ich mich nicht. Es dauerte nicht lange bis der Notarzt kam und mich mitnahm.
Am nächsten Morgen, marschierte eine Ärztin mit einer Akte, einem Klemmbrett und einem weißen Kittel durch einen Korridor im Krankenhaus. Ihre Kollegen grüßten sie freundlich, was sie natürlich erwiderte. Einem dunkelhäutigen Chirurgen und einem Arzt mit zerzauster Frisur, zeigte sie, dass sie die beiden gut im Auge behalten würde, da einer von beiden auf dem Rücken des anderen Hockte und sich durch das Gebäude tragen lies. Kopf schüttelnd ging sie weiter und stoppte dann vor einer Glastür auf der in japanischen Buchstaben „Diagnostik“ geschrieben war. Sie klopfte an, wartete auf eine Reaktion und schritt dann mit schelmischen Lächeln hinein. Offensichtlich saß dort der Arzt, der mich beim letzten mal schon begutachtet hatte. Er hockte in seinem Sessel, hatte die Beine auf den Tisch gelegt, aß ein Sandwich und schaute sich auf einen kleinen Fernseher ein Monstertruck-Rennen an.
„Wird ihnen das nie langweilig?“, fragte sie.
„Dass sie ständig dann hereinplatzen, wenn ich meine Pause habe?“, konterte er, “Sollten sie auch mal ausprobieren. Wirkt wahre Wunder. Man fühlt sich danach entspannter.“
„Wirklich witzig. Ich dachte mir, da sie gerade so friedlich ihrer Freizeit nachgehen, was sie ja den ganzen Tag über tun, könnten sie sich um einen Fall kümmern.“
„Und wird „Ihnen“, dass nicht irgendwann langweilig?“, fragte er.
„Ihre Spielchen können sie heute nicht mit mir spielen.“, hackte sie nach, “Es geht um einen besonderen Fall. Und ich würde jetzt bitten und betteln und flehen, dass sie diesen Fall unter allen Umständen sofort bearbeiten und alle anderen auslassen, aber ich will das bisschen Würde was ich noch habe behalten.“
„Was ist es für ein Fall? Lupus? Sarkoidose? Ein ernsthafter Fall von Leber-und Nierenversagen? Kommen sie schon. Sie können mich nicht überraschen. Ich habe bereits die absurdesten Fälle gehabt. Ob es nun ein MP3-Player der einem Dummkopf in seinem Arsch gesteckt hat, oder aber die geistig verwirrte Frau, die nicht wusste wie man einen Inhalator benutzt.“
Bevor er noch weitere aufzählen konnte, unterbrach sie ihn.
„Ja genau. Und dann noch eine Glühbirne die in jemandes Arsch gesteckt hat, weil dieser Jemand Langeweile hatte. Oder aber einen Knirps der alles, aber auch wirklich alles in sich hineingestopft hat, was kleiner war als seine eigene Faust.“
„Da haben sie es doch. Sie können mich nicht überraschen. Also was ist es?“
Sie legte ihm die Akte auf dem Tisch.
„Der Patient könnte ihnen bekannt vorkommen. Männlich, Anfang 20. Er war vor ein paar Wochen schon mal hier, weil sein Herz großem Stress ausgesetzt war und er deswegen zusammengebrochen ist.“
„Dann hat er wohl Sehnsucht. Ob nun nach den Schmerzen oder aber er hat einen Narren an mir gefressen.“
Doch sie schüttelte den Kopf.
„Laut den Aussagen seiner Mitbewohnerin, sei es diesmal ein emotionales Problem. Sein Herz hat diesmal komplett ausgesetzt. Er musste heute die ganze Nacht lang beatmet werden und dann noch einmal reanimiert. Ich weiß das klingt alles nicht sehr abstrus oder verwunderlich genug für sie.....“
„Ist es auch nicht. Was hat sein Herzleiden diesmal verursacht? Hat ihm seine Freundin abserviert? Hat ihn seine Mami nicht mehr lieb?“
Sie rückte sich ihre Brille kurz zurecht und seufzte dann.
„Ich gehe stark davon aus, dass es das Broken-Heart-Syndrom ist.“
„Und was bewegt sie zu der Annahme?“, fragte er und linste über den Rand der Akte.
„Sein Halbbruder ist gerade verstorben. Als er davon erfahren hat, schien es so, als kümmere es ihn nicht. Danach ist er aber zusammengebrochen und sein Herz setzte aus.“
Seine Mine wurde nachdenklich. Er klappte die Akte auf und sah sich noch mal meine Krankheitsgeschichte an.
„Interessant.“, murmelte er.
„Dann bearbeiten sie also seinen Fall?“, fragte sie erleichtert.
„Warten wir es ab. Erst schulden sie mir noch ein Sandwich.“
Damit stapfte er mit seinen Stock hinaus.
„Ich bereite dann schon mal alles vor, Dr. House.“