Als ich endlich damit fertig war, den anderen mein Leben zu offenbaren, wie es bisher verlaufen ist und was für eine Last ich mit mir trage, konnte ich ihre Blicke genau deuten. Während Mutter und mein Onkel mich davor bewahrten, danach komplett wahnsinnig zu werden, waren Ayako und ihre Eltern und die beiden anderen Anverwandten, starr vor Entsetzen. Alle zitterten sie, rauften sich die Haare und konnten einfach nicht begreifen, was sie da gerade vernommen haben. Es schien mir so, als ob sie mir nicht nur zugehört, sondern auch alles mit eigenen Augen gesehen hätten. Asurai hingegen schwieg und wirkte, als hätte man ihm jegliche Freude, die ihm noch inne wohnte, grausam entrissen.
Ich spürte einen Schmerz, der sich immer tiefer und tiefer in meine Eingeweide hineinbohrte. Und bevor ich zusammenbrach, schritt ich leise aus dem Saal und bemerkte nur beiläufig Rin. Sie war gegen die Wand neben der Türe gefallen , saß auf den Boden und atmete angestrengt ein und aus. Offenbar hatte sie ebenfalls meiner Geschichte gelauscht und sie hatte wohl Tränen vergießen müssen. Zu erst dachte ich daran, mich zu ihr zu setzen, doch meine Beine trieben mich nach draußen in den Garten.
Die Nacht war schon lange hereingebrochen und ich konnte nur wage erkennen, was sich hier draußen befand. Ein großer Teich lag ungefähr im Zentrum des ganzen. Über dem Teich, befand sich eine kleine Brücke, die von einem Baum beschattet wurde. Ich wollte mich ablenken und stieg auf das feine Holz und blickte hinunter auf das Wasser. Im Wasser schwammen Kois. Fische, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren wirklich groß und leuchteten in den Farben schwarz, rot und weis. Ein schwarzer und ein weiser, schwammen immer eng beieinander, meist weiter weg von den anderen und immer nur für sich. Sie schienen zu tanzen. Irgendwie, hatte das ganze eine Hypnotische Wirkung auf mich. Ich bemerkte nicht mal, wie mir eine Träne von der Nasenspitze fiel und ins Wasser tropfte. „Unglaublich. Ich weine ja immer noch.“
Der Verlust von Saki, war es diesmal nicht der mich wieder in diese dunkle Leere zog. Sondern viel mehr mein gesamtes Leben. Seit meiner Geburt, war ich mit einem Fluch geschlagen, der mir nichts als Ärger bereitete. Nur Schmerz, Leid und Leere konnte ich wahrnehmen. Doch ich wollte mich davon nicht weiter beherrschen lassen. Ich musste daran denken, dass ich all das doch, hinter mir gelassen hatte. Im Ryokan hatte ich jetzt so etwas wie „Freunde“ gefunden. Freunde die mir halfen diesen ganzen Wahnsinn zu überstehen. Und dennoch, konnte ich einfach nicht aufhören zu weinen.
„Ich hätte mir gleich denken können, das du dich hierher verirrst.“, sagte mein Onkel hinter mir,“Dieser Garten hat eine magische Anziehungskraft.“
Ich schluckte und wischte mir die Tränen weg.
„Verzeiht, wenn ich euch so wortlos zurückgelassen habe.“, sagte ich geknickt.
„Unsinn.“, sagte er und legte mir eine Hand auf die Schulter,“Man kommt im Leben immer mal wieder bei einer scheinbar unüberwindbaren Mauer an. Entweder erklimmt man sie und wächst an der Herausforderung, oder aber man rennt gerade aus weiter, mit dem Kopf durch die Wand.“
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“
„Das musst du auch nicht. Stattdessen möchte ich das du mir nur zuhörst.“, sagte er lächelnd und setzte sich mit gekreuzten Beinen neben mich.
Ich tat es ihm gleich und pflanzte mich daneben.
„Vor ein paar Wochen, wäre ich dem sehr abgeneigt gewesen. Das Leben so wie ich es kenne ist einfach nicht fair. Egal wie sehr ich mich auch anstrenge, nichts klappt.“
Er nickte.
„Ja, das Leben kann eine Qual sein und glaube mir, in den meisten Fällen ist es das auch. Man darf sich davon aber nur nicht beherrschen und einschüchtern lassen. Du, hast viele tiefe Narben und dennoch hast du dich aus der Misere herausgezogen. Deine Mutter kann wirklich stolz auf dich sein, mein lieber Neffe.“
„Oftmals habe ich gedacht, ich wäre einfach zu schwach um andere zu beschützen. Auf der anderen Seite, redete ich mir selbst ein, dass ich einfach nur unfähig dazu bin.“, sagte ich und lies den Kopf hängen.
„Ich glaube du denkst dabei etwas zu einfach. Andere zu beschützen, die dir etwas bedeuten ist eine noble Geste. Auch deine Mutter hatte früher die gleichen Vorstellungen.“
„Und dabei hat sie die Männer verängstigt.“
Er lachte und klopfte mir auf den Rücken.
„Es ist schon erstaunlich, wie ähnlich ihr beide euch seid. Ihr habt beide diese unvergleichliche Art, euer Gegenüber mit einfachen Worten auszukontern.“
Ich starrte in den Himmel und dachte nach.
„Darf ich, dir eine Frage stellen?“
„Aber natürlich. Ich wäre fast schon beleidigt wenn du es nicht tun würdest. Was hast du auf dem Herzen?“
„Nun, meine Mitbewohnerin Tomoe war anfangs immer erpicht darauf, mich dazu zu treiben, dass ich mich gegen sie wehre. Dass ich mich verteidigen kann. Also körperlich.“
„Ah ja, von ihr hast du auch erzählt.“, sagte er und runzelte die Stirn,“Wenn ich das richtig verstanden habe, ist sie eine wahre Kämpfernatur.“
„Das kannst du laut sagen. Aber, meine frage ist: Wieso habe ich bei jedem Schlag und jedem Tritt den sie mir verpasst hat, keine Abscheu gegen sie empfunden? Wieso habe ich sie so bewundert? Ich meine, sie ist mit der erste Mensch, der mir in Sachen körperlicher Kraft, überlegen war.“
Er dachte nach und starrte auf die Fische.
„Es ist immer schwierig, die Gedanken von anderen nachzuvollziehen.“
„Wir kennen uns jetzt schon fast ein halbes Jahr. Und ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, ihr aus dem Weg zu gehen, wenn sie mit mir kämpfen oder trainieren wollte.“
„Euer Weg ist wahrlich sehr ungewöhnlich, dass muss man euch lassen.“, lachte er,“Aber vielleicht missverstehst du da ein paar Sachen.“
„Selbst wenn es so wäre.“, seufzte ich schwer,“Ich verstehe die Menschen immer noch nicht.“
„Ich glaube, dass musst du auch nicht. Es gibt eben manchmal Dinge, die will man nicht verstehen und dann andere, die man einfach nicht verstehen muss. Menschen sind zwar neugierig, aber auch sehr schreckhaft. Anfangs, fürchten sie sich vor allem, was sie nicht verstehen. Und wenn sie keine Antworten bekommen, beginnen sie eines Tages, dass was sie fürchten, zu verachten und zu verstoßen. Aber bei dir und deiner kleinen Freundin, scheint das ja nicht so zu sein. Vielleicht will sie deine Grenzen etwas erweitern oder deine wahre Stärke hervorbringen.“
„Wenn du meinst. Aber ich sollte lieber ins Bett gehen.“
Wir standen auf und gingen gemeinsam wieder ins Haus.
„Solltest du einen Rat brauchen, steht meine Türe immer für dich offen, Neffe.“
„Rayo.“, sagte ich,“Mein Name ist Rayo. Benutze ihn auch bitte!“, brummte ich.
Wieder lachte er und führte mich nach drinnen.
„Ich glaube, das lässt sich arrangieren.“
Mein Onkel war noch so frei und führte mich durch die stille Residenz, direkt neben das Zimmer wo Mutter schlief. Ich konnte sie schnarchen und seufzen hören.
„Ob sie, nach allem was ich im Saal gesagt habe noch gut schlafen kann?“, flüsterte ich.
„Deine Mutter ist eine starke Frau. Sie hat sich schon damals früh vom Klan abgekapselt, weil sie unabhängig sein wollte. Lange Zeit war Asurai darüber sehr betrübt, denn er mochte sie und ihr aufsässiges Verhalten. Sie hatte ihren eigenen Kopf und wusste diesen Dickschädel auch gut einzusetzen.“
„Und den hat sie wohl an mich weiter gegeben.“, murmelte ich.
„Mhm, so ist es.“, gluckste er vergnügt,“Ich werde dich nun schlafen lassen.“
Er umarmte mich und schlich dann leise summend davon. Ich wusste nicht warum, aber ein sehr schmales Lächeln huschte für ein paar Sekunden über mein Gesicht und ich schüttelte den Kopf „Komischer Kauz. Ob er schon immer so war?“ Also dachte ich nicht weiter darüber nach und wollte endlich zu Bett gehen, wenn mich ein kratziges Husten und Fluchen nicht zu Tode erschreckt hätte. Ich stolperte zur Türe rein und lies noch einmal meinen Blick durch den dunklen Korridor schweifen. Weiter hinten, wurde eine Türe aufgeschoben und ein kleiner Lichtkegel durchbrach die Dunkelheit für einen kurzen Augenblick. Kurz darauf erschrak ich erneut, als Rin mit fast schon sprunghaften Schritten an mir vorbeizog.
„Junger Herr, ihr seid noch wach?“, flüsterte sie.
„Ich musste noch viel nachdenken.“, sagte ich genauso leise, “Was war das gerade?“
Sie wies auf die Türe, aus der sie gerade herauskam.
„Der Hausherr hat sich wohl eine Erkältung eingefangen. Ich werde ihm noch einen Tee kochen und ihn versorgen.“
„Sollten sie nicht auch lieber schlafen?“, sagte ich und verzog das Gesicht,“Irgendwie fühle ich mich schuldig, dass ich sie mit meiner Leidensgeschichte aufgekratzt habe.“
„Aber nicht doch.“, sagte sie Kopf schüttelnd,“Mein Dienst endet erst, wenn der ehrenwerte Asurai mir die genaue Anweisung gibt.“
Und damit verschwand sie auch schon wieder. Was mein nächstes Handeln zu bedeuten hatte, könnte man mit „simpler Neugier“ erklären. Und so war es schließlich auch. Ich schlich den Gang entlang und stoppte dann vor Asurais Gemach. Vorsichtig schob ich die große Doppeltüre auf und versteinerte, als ich sein Schlafzimmer......äh nein....seinen „Schlafsaal“ betrat. Sein Bett war gewaltig und stand in der Mitte des Raums. Drum herum standen Kommoden. An den Wänden hingen Gemälde, deren Bedeutungen sich mir gänzlich entzogen. Hinter dem Kopfende, war dieser riesige neunschwänzige Fuchs abgebildet, der umringt war von zinnoberroten Flammen. Für was dieses Wesen stand, konnte ich nicht mal im Ansatz begreifen. Aber ich hatte eine gewisse Ehrfurcht vor ihm. Mit Betonung auf „Furcht“.
„Nur zu, du kannst ruhig näher treten, junger Akumaru.“, sagte er direkt an mich gewandt und winkte mich zu sich.
Ich schritt also zu ihm und sofort spürte ich wieder diesen dunklen Sog, der mich nach vorne drängte, aber auch gleichzeitig abstieß.
„Ich hoffe, das ich euch nicht zu sehr schockiert habe.“, sagte ich.
„Schockiert war ich schon und das bin ich jetzt immer noch.“, sagte er und starrte an die Decke,“Es hat fast alles aus meiner Vergangenheit übertroffen. Aber das soll kein Wettstreit darum werden, wer von uns beiden die tieferen Narben mit sich trägt und welche seelische Wunde uns am meisten mit einem dunklen Schicksal geschlagen hat. Ich wandle schon sehr lange auf dieser Welt, habe viel gesehen und vieles davon, würde ich gerne wieder vergessen.“
„Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber was würdet ihr vergessen wollen, alter Mann?“, fragte ich vorsichtig.
Seine rechte Wange zuckte kaum merklich und ich meinte ein kurzes, keckes Lächeln gesehen zu haben.
„Du kannst mich ruhig beim Namen nennen, denn schließlich, gehören wir ja zu einem Klan. Einer Familie.“
„Mag sein, aber ich kenne noch viel zu wenig von den Regeln des Klans. Und Mutter sagte mir schon, dass ich diese gar nicht erst mögen würde.“
„Da hat deine Mutter auch recht und es schmerzt mich sehr, dass sie bis heute noch damit zu kämpfen hat. Es muss eine schwere Entscheidung für sie gewesen sein, dich zu uns zu bringen. Wahrscheinlich wollte sie das du, genau wie sie selbst, unabhängig von diesem Klan aufwächst und dein eigenes Leben führst. Man kann es ihr nicht verübeln.“
„Bisher weiß ich nur, dass ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, als Schande vom Klan angesehen wird.“, erwiderte ich.
„Das stimmt.“, er seufzte schwer,“Aber mittlerweile, sind wir weiser und reifer geworden.“
Er richtete sich ein wenig auf, was ich schon verhindern wollte, da Rin das sicher nicht gut heißen lassen würde.