Staunend betreten Charmion und ich einen Raum, den seit vielen Jahren niemand mehr gesehen hat. Er ist relativ klein, vielleicht 10 Ellen in der Breite und 12 Ellen in der Tiefe.[1] Die Decke ist niedrig und besteht aus massiven Granitbalken. Doch das Besondere sind die Wände, die mit Regalen voller Papyrusrollen gefüllt sind. Eine Wand ist dagegen mit Theaterfiguren aus der griechischen Tragödie bemalt und dort befindet sich auch eine weitere Tür mit einem Ptolemäischen Adler, dessen Krallen einen bronzenen Ring umschlossen halten. In der Mitte des Raumes steht ein eleganter Holztisch mit Elfenbeineinlagen und einigen Papyrusrollen darauf.
„Was ist das?“, fragt Charmion ehrfürchtig und beleuchtet mit ihrer Öllampe die Regale voller Schriftrollen, die im Schein der Flamme ein unheimliches Eigenleben zu besitzen scheinen. Ich selbst stelle meine Lampe auf dem Tisch ab und betrachte die dort abgelegten Gegenstände. verstaubte Papyrusblätter, ein Calamus aus Elfenbein, Rohrfedern, ein Messer zum Anspitzen und ein Tintengefäß aus Goldglas.
„Es sieht aus wie ein geheimes Büro oder Archiv“, überlege ich laut und greife nach einer der Papyrusrollen, die dort liegen. Als ich sie vorsichtig aufrolle, stellt sie sich als Namensliste heraus. In filigraner griechischer Schrift sind dort mindestens 20 Namen samt Berufen und Titeln verzeichnet. Einige sind unterstrichen oder mit kleinen Anmerkungen versehen.
Da mir keiner dieser Namen etwas sagt, greife ich nach der nächsten Schriftrolle und beginne zu lesen:
„An den Hohepriester des Ptah von Memphis, Padibastet[2], den Gottesvater und Propheten des Ptah, Priester aller Götter der memphitischen Tempel, Prophet des Horus, des Sohnes der Isis, Schreiber des Schatzhauses, königlicher Schreiber der westlichen Rhakotis, Schreiber des Opfertisches der Isis in Chenti-Netjeri und der Bastet in Anch-tawi, Prophet der Bibliothek, des Ptah und der Göttin Philadelphos[3], Prophet des Erscheinungsfensters und der Götter des Erscheinungsfensters, Hüter der Geheimnisse im Reich des Ptah und in Rosetau, Herr der Geheimnisse des Himmels, der Erde und der Unterwelt, Herr der Geheimnisse von Ober- und Unterägypten, Herr der Geheimnisse des Serapeions, des Osireions, des Rutiset und des Hauses des Anubis, der auf seinem Berg ist, Erbfürst und Graf, Erster der Handwerker, Sohn des Hohepriesters Pasheri-en-Phah und der Prinzessin Berenike.[4]
Hochverehrter Padibastet, ich wende mich heute in großer Not an Euch, nicht nur in Eurer Funktion als Hohepriester, der in alle Geheimnisse und Mysterien eingeweiht ist, sondern auch als meinen Cousin und Freund, dem ich vertraue. Ich bin in Alexandria von Feinden umgeben und benötige Eure Hilfe dringender denn je. Das Unsagbare ist eingetreten, unser gemeinsamer Cousin, mein Gemahl Ptolemaios Alexander hat sich als Verräter erwiesen und unser Land an die Römer verraten. Ich habe Boten abgefangen, die auf dem Weg nach Rom waren. Mit dabei hatten sie ein Testament meines Gemahls, in dem er Ägypten nach seinem Tod an Rom vermacht. Ich brauche Euch nicht zu sagen, dass dies nicht nur die schlimmste Form des Hochverrats, sondern auch ein Sakrileg gegen die Götter darstellt. Solch eine Sünde wurde seit über 1000 Jahren nicht mehr begangen!
Ich habe dafür Sorge getragen, dass dieses Testament nicht nach Rom gelangt und die beiden Boten zum Schweigen gebracht. Gerne würde ich dieses unglückselige Testament einfach vernichten. Doch da der Pharao selbst es war, der dieses schreckliche Sakrileg begangen hat, benötige ich es als Beweisstück wider ihn. Es soll Euch zu gegebener Zeit vorgelegt werden. Ich ermächtige Euch und die Propheten aller Tempel Ägyptens dazu, die geheime Anklage gegen den König einzuleiten. Im Namen der Götter rufe ich Euch als Richter auf, um meinen Gemahl vor einem internen Tribunal anzuklagen, da er nicht würdig ist, auf dem Thron des Horus der Lebenden zu sitzen und das Amt des Pharaos auszuüben. Ich beschwöre Euch als obersten Priester Ägyptens und im Namen von Ptah, Isis und Serapis, denen wir bei unserer Einweihung den Treueeid geschworen haben, genau wie dem Haus Ptolemaios, helft mir Padibastet...“
Hier endet der Brief. Ungläubig überfliege ich noch einmal die Zeilen und drehe ihn in der Hand. Er trägt weder Unterschrift noch Datum, aber es ist klar, wer ihn verfasst haben muss. Meine Tante Kleopatra Berenike höchstselbst. Sie muss ihn kurz vor ihrem Tod geschrieben haben – vor nunmehr 32 Jahren. Doch sie hat den Brief offenbar nie fertiggestellt oder abgeschickt. Ist sie unterbrochen worden oder hat sie das Schriftstück hier hinterlegt, um es später zu vollenden? Er ist an Padibastet adressiert, den Bruder meiner Mutter, der damals Hohepriester des Ptah in Memphis war. Dieser Onkel starb vor meiner Geburt, doch er ist auch Psen-Ptahs Vater und Khered-Anchs Großvater.
Ich lese den Brief noch einmal und langsam wird mir klar, was wir da entdeckt haben. Mein Blick wandert zu den Papyrusrollen in den Regalen. Befindet sich darunter das nie abgeschickte Testament des Ptolemaios Alexander, des Königs, dessen Name nicht mehr genannt werden darf? Ein Testament, das nie dort ankam und in dessen Namen Rom meinen Vater trotzdem jahrelang um Zahlungen erpresste. Ein Testament, in dem ein ptolemäischer König Ägypten an Rom vermacht. Was, wenn es hier inmitten dieser Schriftrollen liegt? Gefährlich wie die Büchse der Pandora. Und das ausgerechnet jetzt, wo dieser Palast von Römern besetzt wird. Und nicht von irgendwelchen Römern wohlgemerkt: Vom Herrn über das römische Reich höchstpersönlich, dem so gut wie nichts entgeht und mit dem ich das Bett teile. Das kann doch nicht wahr sein!
Mein Blick gleitet gehetzt über die Regale mit den Papyrusrollen und dann zu meiner Freundin. „Charmion, du musst heute Nacht zusammen mit Khered-Anch diese Schriftstücke durchgehen. Ich muss wissen, ob sich darunter ein Testament verbirgt. Das Testament des Königs, dessen Name nicht genannt werden darf.“ Erschrocken schlägt sie die Hand vor den Mund und ich reiche ihr die Schriftrolle. Während ihre Augen gehetzt über die Zeilen huschen, überlege ich fieberhaft, wie ich jetzt vorgehen soll.
„Niemand darf davon erfahren!“, sage ich eindringlich.
„Ich schwöre, niemandem etwas zu verraten!“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Aber was sollen wir tun, falls wir das Testament hier finden?“
„Wir müssen es vernichten!“
„Und wenn wir einfach alle Schriftstücke verbrennen?“
Das wäre natürlich eine Idee. Ich mustere die zahlreichen Papyri in den Regalen, schüttele dann aber entschieden den Kopf. „Zu viel Rauch! Wir könnten ersticken oder die Aufmerksamkeit erst recht auf diesen Raum lenken, wenn alles in Flammen aufgeht. Außerdem sind wahrscheinlich wertvolle Schriften darunter. Nein, Ihr müsst alles durchgehen, denn möglicherweise befindet sich das Testament an einem ganz anderen Ort und die Schriften enthalten nur Hinweise darauf.“
„Was passiert mit diesem Brief? Willst du ihn mit nach oben nehmen?“
„Nein, solange niemand außer uns von diesem Raum weiß, ist er hier am Sichersten. Wir lassen ihn vorerst hier“, beschließe ich.
„Was ist mit der anderen Tür?“, fragt Charmion. Und erst jetzt wird mir bewusst, dass es ja noch einen zweiten Eingang zu dieser Kammer gibt. Sind wir wirklich die ersten und einzigen, die von diesem Raum wissen?
„Versuch sie zu öffnen!“, sage ich leise und schaue zu, wie Charmion nach dem Ring greift und dieselben Bewegungen wie bei der Tür in ihrem Zimmer vollführt.
„Sie bewegt sich nicht“, meint sie jedoch nach einem Augenblick und beginnt, das Schloss abzutasten. „Hier ist wieder eine Kartusche.“ Ich trete dazu und drücke entschlossen das Siegel in die Vertiefung. Es ist der gleiche Mechanismus wie bei der ersten Tür. Nachdem ich auch den zweiten Siegel-Ohrring zum Einsatz gebracht habe, gleitet die Tür mit einem leisen Klicken zurück und gibt den Blick auf einen weiteren dunklen Gang frei.
„Wir müssen herausfinden, wohin er führt“, beschließe ich und greife nach meiner Öllampe, doch Charmion hält mich zurück. „Warte“, sagt sie leise und kniet sich hin, um mit der Lampe den Boden auszuleuchten. „Ich glaube, hier war auch sehr lange niemand mehr“, meint sie schließlich. „Zumindest kann ich keine Fußspuren erkennen.“
Erleichtert nicke ich und betrete dann den Gang. Wenigstens etwas!
Der Gang ist etwas breiter als der, durch den wir bereits gekommen sind, weswegen Charmion und ich hier nebeneinander laufen können. Der Boden unter uns besteht aus Sandstein und die Wände sind mit geglättetem Kalzit-Alabaster verkleidet. Ein gewaltiger Aufwand für einen geheimen Gang, von dem anscheinend niemand etwas weiß. Eine gefühlte Ewigkeit folgen wir den sanften Kurven des Ganges, bis wir schließlich wieder vor Treppenstufen stehen, die nach oben führen.
Ich zähle die Stufen und als schließlich eine weitere Tür mit einem Ptolemäischen Adler vor uns auftaucht, bin ich mir sicher, dass wir uns nun wieder über dem Bodenniveau befinden müssen. Ich lege einen Finger an die Lippen und beuge mich vor, um an der Tür zu lauschen, doch dahinter höre ich nichts als Stille.
„Soll ich versuchen, sie zu öffnen?“, bietet Charmion an und auf mein Nicken macht sie sich geschickt am Mechanismus der Tür zu schaffen. Anders als bei der Tür in ihrem Zimmer, versinkt diese plötzlich in der Wand und gibt einen Spalt und den Blick in einen dunklen Raum preis. Eine Drehtür! Neugierig blicke ich mich um. Hier stehen Theater-Requisiten und Kostüme auf Puppen, die mit Leinentüchern abgedeckt sind. An den Wänden hängen Masken. Aber es wirkt, als würde der Raum nur selten benutzt.
„Sieht aus, wie ein Kostümfundus“, mutmaßt Charmion, die eines der Tücher anhebt und einen Linothorax mit Medusenhaupt freilegt.
Ich studiere einen hölzernen Kasten, an dessen Rückseite sich verschiedene Hebel, Gewichte und Zahnräder befinden. „Ein Automatisches Theater – nach dem Vorbild des Philon von Byzantion“, staune ich. Doch ich halte mich nicht lange auf, da ich bereits eine andere Tür entdeckt habe. Ich drücke dagegen. Sie gibt nicht nach, enthält aber ein kleines vergittertes Fenster, durch das ich auf einen weiteren Gang sehen kann. Am Ende des Ganges flutet Licht durch ein geöffnetes Tor und dahinter kann ich nach oben ansteigende Sitzreihen erkennen. Das bestätigt meine Vermutung.
„Wir sind im Theater des Dionysos!“, flüstere ich. Charmion ist neben mich getreten und untersucht die Tür.
„Soll ich versuchen, sie zu öffnen?“
„Nein. Nicht, dass uns noch jemand entdeckt. Und wir sind auch schon viel zu lange weg. Lass uns zurückgehen!“
Hinter uns verschließen wir die Drehtür wieder sorgsam, bevor wir uns wieder in die Dunkelheit des Ganges und auf den Rückweg zu Berenikes geheimen Archiv begeben.
Als wir schließlich wieder in Charmions Zimmer ankommen, wartet Khered-Anch bereits nervös. „Und?“, fragt sie aufgeregt, „Konntet ihr die Tür öffnen?“
Ich fasse unsere Entdeckungen kurz zusammen und beobachte Khered-Anchs Reaktion. Sie ist kreidebleich geworden.
„Haben dein Vater oder dein Onkel jemals etwas über dieses Testament oder ein Hilfegesuch der Königin Kleopatra Berenike geäußert? Oder über einen geheimen Brief, den dein Großvater erhalten hat?“, frage ich eindringlich.
„Nein“, beteuert sie. „Ich meine, mein Großvater starb lange vor meiner Geburt. Aber wenn er in ein solches Geheimnis eingeweiht gewesen wäre, hätte er als Hohepriester sicher Stillschweigen darüber gewahrt. Zumindest haben Vater oder Psenamounis nie über so einen Brief gesprochen.“
„Gut.“ Das bestätigt meinen Verdacht, dass die in diesem Brief enthaltenen Informationen nicht weitergegeben wurden. Der Hohepriester hat vermutlich nie davon erfahren, denn höchstwahrscheinlich wurde die Königin ermordet, bevor sie den Brief vollenden konnte.
„Dieser Raum war anscheinend Berenikes Zuflucht“, fahre ich fort, „und alle Geheimnisse, die sie dort verwahrt hat, sollen auch dort bleiben. Charmion hat mir einen Eid geleistet und den muss ich nun auch von dir fordern, Khered-Anch. Bei den Mysterien der Isis, schwöre mir, niemandem davon zu berichten, außer wenn ich es gestatte oder das Fortbestehen unseres Landes davon abhängt!“ Ohne zu zögern fällt die Priesterin vor mir auf die Knie und küsst den Boden. Dann spricht sie die heiligen Worte der ptolemäischen Eidesformel: „Bei Serapis, Isis und den anderen Göttern: Ich schwöre, die Geheimnisse meiner Königin zu wahren und niemandem davon zu berichten, außer auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin oder zur Rettung unseres Landes!“
Normalerweise fordere ich solche dramatischen Gesten nicht in meinem privaten Umfeld, aber diese Sache ist zu wichtig und erfordert tatsächlich einen Eid wie diesen. Ich nicke ernst und bedeute ihr, sich wieder zu erheben.
Die Sonne beginnt gerade im Westen unterzugehen, ihre letzten Strahlen fallen durch die beiden hohen Fenster und tauchen alles in warme Farben. Hier oben in Charmions Gemach wirkt alles längst nicht mehr so dramatisch, wie in der Enge und Dunkelheit unter der Erde. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen.
Angesichts der angespannten Lage in der Stadt könnte dieser Gang tatsächlich von militärischer Relevanz sein, da er Palast und Theater miteinander verbindet. Ich müsste es Caesar sagen, aber das kann ich nicht. ‚Damals kannte ich dich noch nicht, Kleopatra. Jetzt schon.‘ Caesar hat mir gegenüber eingeräumt, dass er damals anders dachte. Als junger Mann hätte er Ägypten ohne mit der Wimper zu zucken zu einer römischen Provinz gemacht. Aber seitdem war viel geschehen und sein eindringlicher Blick war ehrlich gewesen. Aber was, wenn dieses Testament nun doch auftauchte? Würde er sich diese Chance tatsächlich entgehen lassen? Wäre ich ihm dann wirklich wichtiger als seine Macht in Rom? Ich möchte ihn definitiv nicht vor diese Wahl stellen. Und deshalb kann ich ihm auch nicht von diesem Raum erzählen – nicht, bevor ich absolut sicher bin, dass dieses Testament nicht doch existiert und sich am Ende noch unter den Papieren der verstorbenen Königin befindet!
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[1] Die ägyptische Königs-Elle entsprach ca. 52,5 cm. Der Raum ist also nicht ganz 5x6 m groß.
[2] Padibastet III. (21.11.121-14.02.76 v. Chr.) Die Titel des Hohepriesters sind alle überliefert, aber wurden für diesen Roman stark gekürzt: https://www.geocities.ws/christopherjbennett/ptolemies/hpms/hpm_pedubast_iii.htm
[3] Die vergöttlichte Königin Arsinoe II.
[4] Padibastets Mutter Berenike (geb. zwischen 140 und 136 v. Chr.) war höchstwahrscheinlich eine Tochter von König Ptolemaios VIII. und heiratete den Hohepriester des Ptah Pasheri-en-Phah (Psen-Ptah II.): https://www.geocities.ws/christopherjbennett/ptolemies/ptolemies_berenice_c.htm