„(…) darum darf man wohl behaupten, es gibt für alle Umstände des Lebens nichts Nützlicheres zu lernen, als Geschichte, Denn dadurch gewinnen Jüngere die Klugheit des Alters, und Letztere ein[e] Bereicherung ihrer eigenen Erfahrung. Privatleute macht die Geschichtskunde zu Staatsämtern tüchtig, und Staatsmänner ermuntert sie durch die Hoffnung auf Unsterblichkeit des Namens zu den Herrlichsten Unternehmungen.“
Diodor, Bibliotheca Historica, Kapitel 1[1]
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Die weiteren Erklärungen des Epistates höre ich kaum, als wir die Leseräume, Vorlesungssäle und Schreibwerkstätten besichtigen. Denn die ganze Zeit klingen Caesars geflüsterte Worte in mir nach: „Alexandria ist wahrlich eine Stadt der Wunder. Aber du, meine Königin, bist von allen das Größte.“ Immer wieder suche ich seinen Blick und der Ausdruck in seinen Augen ist warm, aufmerksam und liebkosend.
Zusammen durchqueren wir die Forschungsräume der Architekten und erreichen die Säle der Dichter, Philosophen und Geschichtsschreiber. Der Duft nach Papyrus und Tinte liegt in der Luft, als wir einen Raum betreten, in dem mehrere Gelehrte zwischen Regalen voller Schriftrollen an ihren jeweiligen Tischen und Pulten arbeiten.
„Im Unterschied zur Bibliothek von Pergamon, die das minderwertige, aus Tierhäuten gewonnene Pergament für ihre Bücher benutzt, verwenden wir hier in Alexandria ausschließlich hochwertigen Papyrus“, informiert uns der Epistates nicht ohne Stolz. Ich schmunzele, denn was er nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass meine Vorfahren sich anfangs weigerten, die Konkurrenzbibliothek in Kleinasien mit Papyrus zu beliefern, weshalb man sich in Pergamon stattdessen auf die Pergamentherstellung spezialisierte.
Nachdem der Epistates die anwesenden Gelehrten vorgestellt hat, werden wieder einige höfliche Worte gewechselt. Unsere Gesellschaft hat sich in kleine Gruppen aufgeteilt und Caesar ist in ein Gespräch mit Olympos und Sextus vertieft, als Apollodorus mit einer Verbeugung neben mich tritt. „Majestät, falls es Eure Zeit erlaubt, würde ich Euch gerne kurz meinen Onkel aus Sizilien vorstellen, der gerade zu Besuch im Museion ist.“
„Ist das jener Onkel, den du immer als sehr exzentrisch beschreibst?“, frage ich leise.
Apollodorus grinst: „Eben jener!“
Ich nicke Apollodorus zu, worauf Charmion und Khered-Anch sich mir stillschweigend anschließen und mich mit ihren Federfächern flankieren. Wir folgen Apollodorus in einen fensterlosen Nebenraum, an dessen Wänden sich Regale mit Schriftrollen bis zur Decke hochtürmen. An einem Tisch, der ebenfalls vor Schriftrollen überquillt, sitzt ein grauhaariger Gelehrter im Philosophenmantel, der so sehr auf seinen Text konzentriert ist, dass er unser Eintreten erst bemerkt, als Apollodorus sich räuspert: „Majestät, das ist mein Onkel Diodorus aus Sizilien.“[2]
Irritiert blickt der Mann auf und ist im nächsten Moment auf den Beinen, um sich tief vor mir zu verneigen. „Majestät, welche Ehre!“, wispert er erschrocken, „verzeiht, ich hatte noch nicht mit Eurem Kommen gerechnet.“ Und da wird mir klar, dass Apollodorus, der sicherlich alle Räume im Vorfeld hat überprüfen lassen, sich einen Scherz mit seinem Verwandten erlaubt und ihn über den Zeitpunkt unseres Besuches im Unklaren gelassen hat.
Um dem Gelehrten die Verlegenheit zu nehmen, lächele ich ihn freundlich an. „Keine Umstände, Diodorus. Willkommen zurück in Alexandria. Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen. Dass Ihr so vertieft in Eure Arbeit seid, spricht für Eure Ernsthaftigkeit. Ich habe selbst hier studiert. Bitte erzählt mir von Eurer Forschung.“
Meine Worte entlocken Diodorus ein Strahlen und er entspannt sich sichtlich. „Nun, Majestät, wie mein Neffe vielleicht schon berichtet hat“, er schaut kurz zu Apollodorus, der nur ein gleichmütiges Gesicht macht. Der werte Neffe hat mir gar nichts erzählt. „Arbeite ich an einer Universalgeschichte der Welt. Sie wird 40 Bücher umfassen und der überwiegende Teil davon ist bereits fertig. Ich bin noch einmal hierhergereist, um einige Manuskripte und schwer zugängliche Quellen zu konsultieren, bevor ich alles veröffentliche.“
„40 Bände? Das klingt nach einem Lebenswerk!“ Beeindruckt werfe ich einen Blick auf seine Aufzeichnungen und die vielen aufgerollten Papyri und sehe ihn wohlwollend an.
„Nur ein unvollkommener Versuch, die großen Taten der Vergangenheit in komprimierter Form zusammenzufassen, Majestät.“
„Mein Onkel ist sehr bescheiden“, wirft Apollodorus nun doch ein. „Was er da schreibt, ist im Grunde die Kurzform einer historischen Bibliothek – vom trojanischen Krieg bis zur Zeit von Alexander dem Großen.“
„Die Bände bis zum Tod Alexanders sind bereits fertig“, korrigiert Diodorus sogleich seinen Neffen und beginnt nun weitschweifig zu erzählen, während er mit den Händen zwischen seinen Aufzeichnungen kramt: „Momentan vervollständige ich den dritten Teil über die Zeit der Diadochen, die großen Heerführer Alexanders und ihre glanzvollen Reiche. Für den letzten Teil stützte ich mich vor allem auf die Berichte des Hektaios von Abdera, der für König Ptolemaios Soter eine Geschichte Ägyptens verfasste, und des Hieronymos von Kardia, der unter dem Feldherrn Demetrios Poliorketes diente…“
Während Diodor die historische Wichtigkeit seiner Quellen erläutert und dabei mit mehreren Schriftrollen hantiert, betrachte ich die auf den Tischen ausgebreiteten Ahnentafeln. Es sind die Stammbäume der großen Feldherren Alexanders, der berühmten Diadochen, von denen meine Geschwister und ich abstammen. Immer wieder kreuzen sich die Linien zwischen den Herrscherhäusern, denn die großen Dynastien der Ptolemäer, Seleukiden, Antipatriden und Antigoniden waren durch diplomatische Ehen alle miteinander verwandt und verschwägert. Neben den Ahnentafeln und Notizen liegen auch einige Portraits. Charmion ist meinem Blick gefolgt und greift das oberste, um es mir zu reichen. Das mit leuchtenden Farben auf Holz gemalte Bild zeigt das jugendlich-anmutige Gesicht einer makedonischen Edelfrau. Die verblasste griechische Schrift verrät ihren Namen, es handelt sich um ein Portrait von Königin Phila, der Gemahlin des Feldherrn Demetrios Poliorketes.
„Eine erstaunlich lebensnahe Malerei“, erklingt plötzlich Caesars dunkle Stimme nahe an meinem Ohr. „Du hast ein bisschen Ähnlichkeit mit ihr.“
Wieder blickt Diodorus erschrocken auf und auch Charmion schaut überrascht. Beide haben Caesars Eintreten ebenfalls nicht bemerkt. Ich bleibe indessen noch einen Moment bewegungslos stehen und genieße das Gefühl seines warmen Atems an meinem Hals, bevor ich mich langsam zu ihm umdrehe.
„Ich habe dich schon vermisst, meine Königin“, raunt er mir zu. Sein sinnlicher Blick lässt wohlige Schauer durch meinen Körper fließen und weckt in mir den Wunsch, ihn zu umarmen. Doch wir sind nicht allein. Hinter Caesar hat nun auch noch Sextus den kleinen Raum betreten und sich grinsend neben Apollodorus gegen eins der Regale gelehnt.
Mit einem wissend-amüsierten Lächeln greift Caesar wie selbstverständlich nach dem Bild in meiner Hand, um es zu betrachten. „Königin Phila von Makedonien? Sie wirkt mädchenhaft zart und kraftvoll zugleich. Beeindruckend. Der Künstler hat das meisterhaft eingefangen.“
„Königin Phila war eine meiner Vorfahrinnen“, erkläre ich, aber kann mich nur mit Mühe an die komplizierten Genealogien erinnern, die ich als Kind auswendig lernen musste.
„Also stammst du nicht nur von ägyptischen Göttern, Priestern und Pharaonen ab, sondern auch von makedonischen Königinnen“, sagt er leise.
„Und von den Feldherren Alexanders“, erwidere ich ebenso leise. Unter seinem intensiven Blick fällt es schwer, mich wieder auf unsere Umgebung zu konzentrieren und der Höflichkeit Genüge zu tun. Doch ich reiße mich zusammen: „Caesar, darf ich dir Diodorus vorstellen? Er ist ein Onkel von Apollodorus und arbeitet an einer historischen Abhandlung über die Diadochenzeit. Er ist aus Sizilien angereist, um hier seine geschichtlichen Studien zu vollenden.“
„Es freut mich immer, andere Autoren kennenzulernen.“ Caesar nickt dem Gelehrten wohlwollend zu, der daraufhin ein respektvolles „Imperator“ murmelt. „Was genau berichten denn die Quellen über diese Vorfahrin unserer bezaubernden Königin?“
„Nun, Hieronymos von Kardia beschreibt Königin Phila als kluge und gerechte Frau. Sie war die älteste Tochter des Feldherrn Antipatros. Schon als Mädchen war sie die Beraterin ihres Vaters, der großen Wert auf ihr Urteil in politischen Fragen legte…“ Bei dieser Beschreibung fühle mich unweigerlich an meine eigene Kindheit erinnert. Diodoros berichtet weiter über die Ehen und Nachkommen der Königin, zu denen auch meine berühmte Vorfahrin Berenike Euergetis[3] zählt und fasst ihre Taten kurz zusammen. Ihr Ende ist wie so oft in diesen Geschichten tragisch: „…Sie war eine edle und mutige Frau, die nach der Niederlage ihres Mannes lieber den Tod durch Gift wählte, als sich zu ergeben oder ihr Heil in der Flucht zu suchen. Noch heute wird sie in Lampsakos und anderen griechischen Städten als Göttin Aphrodite-Phila verehrt.“
„Also eine weitere Göttin in deiner Ahnenreihe.“ Caesars Blick wandert von mir zu dem Gelehrten. „Habt Dank, Diodorus. Euer geschichtliches Wissen ist beeindruckend.“
„Ich kann mich den Worten meines Onkels nur anschließen. Euer Wissen über die Quellen zu den ptolemäischen Königinnen ist bewundernswert“, mischt sich nun auch Sextus gutgelaunt in unser Gespräch. „Euch schicken die Götter, Diodorus! Ich bräuchte einen Rat, wo ich passende Gedichte oder Hymnen als Vorlage für meinen Vortrag auf dem Symposion der Prinzessin heute Abend finde.“
„Ähm, ja durchaus, ähm…“ Dorodorus sieht den römischen Offizier fragend an.
„Tribun, oder Sextus Julius Caesar, wenn Euch das lieber ist.“
„Ähm ja, Tribun. Da gibt es einige Vorlagen hier in der Bibliothek. Zum Beispiel die Epigramme des Poseidippos oder das Gedicht des Kallimachos von Kyrene über das Haar der Berenike bieten sich dafür an. Zu letzterem gibt es sogar inzwischen eine lateinische Nachdichtung eines gewissen Catull…“
„Sagt, wollt Ihr mich nicht einfach auf das Symposion heute abend begleiten? Schließt Euch doch einfach unserer Gesellschaft an!“ Sextus‘ jungenhaftem Charme kann sich Diodorus nicht entziehen, denn er nickt zögerlich und verspricht nachzukommen, sobald er die entsprechenden Texte herausgesucht hat.
„Wunderbar, dann lasst uns mit dem Rundgang fortfahren“, erklärt Caesar und reicht mir seine Hand. „Olympos ist schon ganz begierig, uns seinen Giftgarten zu zeigen“, fügt er etwas leiser ironisch hinzu.
„Das kann ich mir vorstellen, der Garten ist sein ganzer Stolz“, flüstere ich und lege meine Hand in seine. Er streicht sanft über meine Handfläche und wie von selbst verschränken sich meine Finger mit seinen, als ich ihm zu den anderen folge.
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[1] http://nubien.de/diodor2.shtml
[2] Die Verwandtschaft zwischen Apollodorus und Diodorus / Diodor ist rein fiktiv. Von beiden ist nur bekannt, dass sie aus Sizilien stammten. Diodor lebte zwischen 60 und 56 v. Chr. in Alexandria (also während der Regierungszeiten von Kleopatras Vater Ptolemaios XII. und ihrer älteren Schwester Berenike IV.), wo er historische Schriften studierte und sicherlich zu den Gelehrten des Museions gehörte. Ob er sich jedoch auch noch im Jahr 48 v. Chr. in Alexandria aufhielt ist nicht bekannt und seine Begegnung mit Caesar und Kleopatra deshalb reine Fiktion. Allerdings ist über das Leben und den familiären Hintergrund Diodors wenig bekannt. Dasselbe gilt für Apollodorus.
[3] Berenike II.