„Es gibt Geschichten über Zauberbücher, die der Gott Thot mit eigener Hand geschrieben haben soll. Es heißt, dass sich einst vor langer Zeit ein ägyptischer Prinz auf die Suche nach einem dieser Bücher machte und nicht eher ruhte, bis er es gefunden hatte…“ Die klare Stimme von Maios‘ Amme klingt durch die Akustik des Ganges verstärkt zu Caesar und mir herüber, obwohl sie samt den Kindern ein ganzes Stück hinter uns geht.
„War das Chaemwese, der Sohn des großen Ramses?“, fragt eines der Kinder.
„Genau. Und genau wie Prinz Maios hier wurde er von seinem Milchbruder, dem Sohn seiner Amme begleitet, der ihm half, in die geheime Grabkammer einzudringen, wo sich das Buch in den Händen einer Mumie befand…“
Ich werfe einen Blick nach hinten: Mein jüngster Bruder hat sich inzwischen wieder zu seinen Spielgefährten gesellt und lauscht gespannt mit den anderen Kindern dem Märchen der Amme.
Mein anderer Bruder debattiert derweil mit Olympos über die Verletzungsgefahr beim Wagenrennen und die Vorteile bestimmter Wagentypen, während der Priester der Musen dazu in regelmäßigen Abständen weise nickt und seine Zustimmung murmelt.
„Was bedeutet der Name Khered-Anch?“ Sextus unterhält sich neben uns noch immer mit meinen Hofdamen.
„Es ist ein alter ägyptischer Name und bedeutet soviel wie: das Kind lebt. Das war der Name der Mutter des großen Imhotep. Ich bin nach ihr benannt“, erwidert die junge Priesterin schüchtern.
„Und Imhotep war dieser heilige Baumeister, der hier in Ägypten mit dem Gott Hermes gleichgesetzt wird?“, fragt Sextus nach.
„Ja, Tribun. Imhotep wird in meiner Heimatstadt Memphis sehr verehrt. Er lebte vor fast 3000 Jahren und war der Baumeister der Stufenpyramide des Königs Djoser. Außerdem war er ein Gelehrter und Magier, Hohepriester und Arzt…“
Auch Caesar lauscht mit einem Ohr den Gesprächen um uns herum, während ich an seiner Seite dem Arkadengang folge.
„Ägypten ist voller Zauber und Rätsel“, bemerkt er leise. Für einen Moment treffen sich unsere Blicke und ich erwidere das Lächeln in seinen Augen.
„Es heißt, dass bei der Schöpfung der Welt neun Teile der Magie auf Ägypten entfielen und der übrige Teil auf die restliche Welt verteilt wurde“, zitiere ich aus den Mysterientexten.
„Wenn man den Gesprächen hier so lauscht, klingt das gar nicht so unwahrscheinlich“, meint Caesar versonnen und bei seinen Worten, wird mir die ausgelassene und gelöste Stimmung um uns herum erst wirklich bewusst: Maios griechische Amme, die dem Prinzen ein ägyptisches Märchen erzählt, Ptolemaios, der mit seinen Lehrern über pharaonische Streitwagentechnologie diskutiert und eine ägyptische Priesterin, die mit einem römischen Tribun über die Entstehung von Göttern und Namen philosophiert.
„Der Zauber der Bibliothek entfaltet seine Wirkung“, erwidere ich augenzwinkernd. Und vielleicht verschwimmen gerade wirklich alle kulturellen Grenzen im Angesicht der Freude und Begeisterung für die Essenz des Wissens. Ich begegne Caesars offenem Blick und kann wortlos darin lesen. Auch er spürt den Zauber dieses Ortes und genießt die Ruhe inmitten dieses Stroms von Gedanken, die um uns herum formuliert und geteilt werden. Und trotzdem sind wir für einen Moment ungestört, denn die Gesprächsfetzen unseres Gefolges vermischen sich mit dem leisen Gesumme der Bienen und Insekten, welche die Blütenkelche der sonnengelben Stockrosen umschwärmen, an denen wir gemessenen Schrittes vorüberschreiten.
Doch da sind wir auch schon vor dem Eingangsportal der Bibliothek angelangt. Die angenehme Kühle des Hauptgebäudes umfängt uns, als wir die repräsentativen Vorräume durchqueren und schließlich die Halle der Weisheit betreten, deren Erhabenheit und Größe dazu dient, jeden Besucher in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen. Der Mosaikboden unter uns zeigt eine riesige Karte der bekannten Welt, während von der bemalten Decke über uns Sternbilder und Himmelsgottheiten auf uns herabschauen. Auf allen Seiten ist die Halle von Kolonnaden umgeben, die gleich den Säulen in den ägyptischen Tempeln als Stützen des Himmels fungieren. Durch die weit geöffneten Portale hinter den Brüstungen, kann man einen Blick in die höher gelegenen Stockwerke werfen. Und überall erblickt man Bücher. Wir befinden uns im Herzen der gewaltigen Bibliothek, deren Säle sich zu allen Seiten hin öffnen.
„Willkommen im ehrwürdigen Hauptgebäude der Großen Bibliothek“, beginnt der Priester der Musen wieder mit seinen Erklärungen, gibt den Besuchern aber einen Moment, um den Raum auf sich wirken zu lassen, bevor er die architektonischen Besonderheiten hervorhebt.
Caesars Augen gleiten über die unzähligen Schriftrollen, die sich in ihren Regalen auf mehreren Stockwerken endlos in die Höhe zu türmen scheinen und ich folge fasziniert seinem bewundernden Blick.
Mittlerweise hat unsere Gruppe sich um die Regale mit dem Bestandskatalog versammelt und der Epistates kommt auf die Katalogisierung der Bücher zu sprechen: „Bei so vielen Schriften ist eine übersichtliche Ordnung unerlässlich. Bereits vor 200 Jahren begann deshalb der berühme Dichter, Gelehrte und Bibliothekar Kallimachos von Kyrene mit der Erstellung eines Bibliothekskatalogs. Das war während der Regierungszeit von König Ptolemaios Philadelphos und seiner Schwestergemahlin, der göttlichen Königin Arsinoe Philadelphos. Kallimachos fertigte ein 120-bändiges Autorenverzeichnis an, auf das all seine Nachfolger bis heute aufbauen…“
„Gibt es hier in der Bibliothek auch Zauberbücher?“, fragt Maios, der wieder zu uns getreten ist.
„Das sind doch Ammenmärchen, Maios“, meint Ptolemaios mit einer wegwerfenden Geste.
„Aber den Prinzen Chaemwese gab es wirklich und er war tatsächlich ein großer Gelehrter“, meine ich versöhnlich und zwinkere meinem kleinen Bruder zu.
„Und man sollte nie den Zauber der Bücher unterschätzen“, fügt Caesar mit einem nachsichtigen Lächeln hinzu.
Ich greife nach einem der alphabetisch geordneten Verzeichnisse vor mir und rolle es behutsam auf. Es behandelt den bekannten Dichter Aischylos und enthält eine lange Liste seiner zahlreichen Werke, sowie ihren Aufbewahrungsort in der Bibliothek. Am Anfang stehen seine Lebensdaten und eine kurze Biographie, die von seiner Teilnahme am Dichterwettbewerb in Athen und an den Schlachten von Marathon und Salamis berichtet.“
„Am Bemerkenswertesten ist sein Ende“, kommentiert Ptolemaios neben mir den Text.
„Wie ist er denn gestorben?“, fragt Maios, der sich neben mich gedrängt hat, um auch einen Blick auf die Schriftrolle zu werfen.
„Ihm wurde prophezeit, dass er beim Einsturz eines Hauses sterben würde“, bemerkt Ptolemaios altklug. „Das hatten wir doch gerade im Unterricht, Maios! Deshalb schlief er draußen auf dem Feld. Aber dann kam ein Adler, der eine Schildkröte erlegt hatte und der suchte einen Felsen, um sie darauf zu zerschmettern.“
„Dummerweise hatte Aischylos eine Glatze“, ergänzt Sextus, der sich nun auch zu uns gesellt hat. „Und von oben verwechselte der Adler dessen Kopf mit einem Stein.“
„Also war mit dem einstürzenden Haus, der Panzer der Schildkröte gemeint, der Aischylos auf den Kopf fiel?“, folgert Maios.
„Genau“, bestätige ich. „So ist das immer in den griechischen Dramen, je mehr man seinem Schicksal auszuweichen sucht, desto sicherer ereilt es einen.“
„Weshalb man sich seinem Schicksal lieber mutig stellen sollte“, ergänzt Caesar. „Wollen wir weiter, meine Liebe?“
Ich übergebe die Schriftrolle mit den Angaben zu Aischylos an Charmion, die sie widerum an einen der Bibliotheksassistenten weiterreicht und folge Caesar und meinen Brüdern weiter ins Innere der Bibliothek.
„Da gerade von Aischylos die Rede war“, fährt der Epistates mit seinen Erklärungen fort und deutet dabei auf die Regale. „König Ptolemaios Euergetes[1] ließ seinerzeit in Athen die staatlichen Exemplare der Dramen von Aischylos, Sophokles und Euripides gegen ein Pfand von 15 Talenten ausleihen, um Kopien davon anfertigen zu können. Die Athener behaupten bis heute, dass der König die Originale behalten und stattdessen gut gemachte Kopien zurückgeschickt habe. Das ist jedoch eine infame Unterstellung“, betont unser Führer überzeugt, „denn so schön unsere Ausgaben der drei genannten Tragödiendichter auch sind, es handelt sich nicht um die Originale, sondern um hier in Alexandria erstellte Abschriften!“
Aischylos, Sophokles und Euripides? Moment mal, könnte es vielleicht sein, dass die Ausgaben in Berenikes geheimer Kammer in Wirklichkeit die athenischen Originale sind? Meine Tante galt doch als große Theaterliebhaberin. Wenn die Stücke damals, vor 200 Jahren schon 15 Talente wert waren, was würden sie heute kosten?
Innerlich mit meinen Überlegungen beschäftigt, höre ich nur halb zu, was der Epistates weiter erzählt: „…In den Gründungszeiten gab es die Regel, dass jedes Buch, das Ägyptens Grenze passierte, für die Bibliothek kopiert werden musste. Heute bestellen wir systematisch Abschriften aller neuen Werke. Selbstverständlich haben auch Eure Commentarii de bello Gallico inzwischen einen Platz in unserer Bibliothek gefunden, verehrter Konsul“, wendet er sich mit einer leichten Verbeugung an Caesar, der das mit einer Neigung seines Kopfes zur Kenntnis nimmt. „Ich freue mich, dass ich in der Lage war, einen bescheidenen Beitrag zum Bestand dieser Bibliothek beitragen zu können“, antwortet er wohlwollend.
Der Priester der Musen nickt erfreut und fährt dann fort: „Die neuerworbenen Bücher werden zunächst in Lagerräumen am Hafen aufbewahrt, erst nach der Registrierung und Katalogisierung durch unsere Bibliotheksassistenten, die Hyperetai, bekommen sie ihren endgültigen Platz. Die Bibliothek umfasst inzwischen annährend eine halbe Million Werke. Die meisten Bücher lagern hier. Zusätzlich gibt es aber auch noch die etwas kleinere Tochterbibliothek im Serapeion…“
Als wir einen kreisförmigen Raum mit Podesten durchqueren, bedeute ich dem Priester, seine Führung zu unterbrechen.
„Habt Dank für die Führung, werter Epistates. Bitte gestattet, dass wir uns einen Augenblick hier umschauen.“
„Natürlich, Majestät“, verneigt der alte Mann sich sofort diensteifrig.
Auf marmornen Podesten sind überall um uns herum Miniaturen und Modelle bahnbrechender Erfindungen ausgestellt, während bewegliche Kugeln und Ellipsen, die an der kuppelförmigen Decke installiert sind, die Bewegung von Himmelskörpern nachahmen.
Ptolemaios und Maios bleiben bei einem Modell der Belagerung von Syrakus stehen. „Hier siehst du: das sind die berühmten Wurfmaschinen, Katapulte und Greifarme mit denen Archimedes die römischen Schiffe bei der Belagerung von Syrakus geentert und versenkt hat. Er hats den Römern ganz schön gezeigt…“, erklärt der König unserem jüngeren Bruder.
„Das hat ihm nur leider auch nichts genützt“, meint Sextus im Vorübergehen mit einem Augenzwingern. „Die Römer haben Syrakus am Ende erobert.“ Und dann wendet er sich wieder Charmion und Khered-Anch zu und beginnt damit, den beiden die Funktionsweise der archimedischen Brennspiegel zu erklären.
Doch mich zieht es zu meinem Lieblingsobjekt, dass auf dem marmornen Sockel im Mittelpunkt des Raumes installiert ist. Es handelt sich um das Modell eines runden Tempels, eines Monopteros, dessen kuppelförmiges Dach nicht von Mauern, sondern allein von kreisförmig angeordneten Säulen getragen wird. Von Weitem sieht er elegant, aber unspektakulär aus. Erst wenn man direkt davorsteht, erkennt man das Wunder, das sich darin befindet. Die kleine Statue im Inneren trägt die Gesichtszüge der göttlichen Königin Arsinoe Philadelphos und ihre metallenen Haare sind wie eine Aureole um ihr feines Gesicht ausgebreitet. Doch erst beim zweiten Blick wird dem Betrachter bewusst, dass die kleine Statue weder den Boden unter ihr, noch die Säulen oder die Kuppel des Tempels berührt. Sie schwebst völlig frei im Raum. Caesar ist neben mir stehen geblieben und betrachtet die schwebende Statuette verblüfft.
„Wie ist das möglich?“, fragt er fasziniert.
Lächelnd trete ich näher an ihn heran. „Vor 200 Jahren beauftragte mein Vorfahre Ptolemaios Philadelphos seinen königlichen Architekten Timochares mit dem Bau eines Tempels für seine Schwestergemahlin Arsinoe Philadelphos. Er sollte ein Wunder enthalten, eine schwebende Statue der vergöttlichten Königin. Timochares forschte und arbeitete lange daran, doch er konnte nur dieses kleine Modell vollenden. Dann starb der König und das Bauprojekt wurde aufgeschoben. Zu späteren Zeiten war es niemandem mehr möglich, den Tempel in dieser Weise zu vollenden. Arsinoes Heiligtum im Hafen enthält deshalb nur eine klassische Kultstatue aus Topas.“
Caesar neigt den Kopf und betrachtet die Statuette prüfend. „Magnetismus?“
Ich lächele. „Ja, das ist das Geheimnis. Die Kuppel des Tempels ist magnetisch und durch ihre eisernen Haare wird die Statuette nach oben gezogen. Er ist gut versteckt, aber wenn du genau hinschaust, kannst du den dünnen schwarzen Seidenfaden sehen, der sie am Boden und dadurch in der Schwebe hält.“
„Nur dieser kleine Faden verhindert, dass die Statuette komplett an der Decke haftet“, erklärt der Epistates, der wieder zu uns getreten ist. „Es gibt keinen Ruhepunkt zwischen Erdanziehungskraft und Magnetismus. Entweder die magnetische Anziehung ist so stark, dass Magnet und Eisen sich verbinden, oder sie ist zu schwach, um etwas zu bewirken. Aber wenn sie so stark ist wie in diesem Fall, kann nur dieser kleine Faden die Statue in der Schwebe halten und sie stabilisieren. Sonst würde sie mit dem Magneten kollidieren.“
Unweigerlich drängen sich mir bei dieser Erklärung ganz andere Assoziationen auf. Ist es mit der Anziehungskraft zwischen Caesar und mir nicht genauso? Ist die Vernunft dieser dünne Faden, der mich davor bewahrt, mich völlig zu verlieren? Und wie sieht es bei ihm aus?
Egal mit was ich mich beschäftige, immer wieder kreisen meine Gedanken um dieses aufregende, gefährliche und unwiderstehliche Gefühl, das mich zu ihm hinzieht. Als wäre alles andere dagegen unwichtig. Mir war zuvor nicht klar, wie sehr sich das Weltbild und die Wahrnehmung aller Dinge durch dieses Gefühl verändert. Aber dreht sich nicht sogar in Sokrates‘ Dialogen und auf seinem Symposion immer alles um das Wesen der Liebe?
„Ich sagte ja schon: hier lernt man jeden Tag Neues und Faszinierendes. Danke, dass du mir das hier gezeigt hast“, meint Caesar mit einem anerkennenden Lächeln in seinen Augen. „Alexandria ist wahrlich eine Stadt der Wunder.“ Und dann beugt er sich zu mir und seine Stimme ist nur ein Flüstern und eine Liebkosung. „Aber du, meine Königin, bist von allen das Größte.“
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[1] Ptolemaios III. (284-222 v. Chr.).