Bewusst bringe ich alle widersprüchlichen Stimmen in mir zum Schweigen und betrete die Kultkammer, deren angenehme Kühle mich sogleich umfängt. Von der Decke schauen Sternenkonstellationen und geflügelte Geierdarstellungen – Personifikationen der Kronengöttin Nechbet – auf die Besucher herab und die Wände sind mit hieroglyphischen Schriftbändern und farbig gestalteten Reliefs geschmückt.
Psenamounis wirkt inzwischen sichtlich entspannt, und auch das Lächeln der anderen Priester gewinnt an Strahlkraft. Man kann ihnen die Erleichterung förmlich ansehen, sich nun endlich wieder in einem vertrauten Umfeld zu befinden. Denn von der Architektur bis zur Dekoration ist hier alles rein ägyptisch. Das steinerne Antlitz meiner Mutter lächelt uns entgegen und erfüllt den Tempel mit einer friedlichen Ruhe. Sie ist als thronende Königin dargestellt und hält ein Zepter in der rechten Hand. Ihren linken Arm hat sie liebevoll um das steinerne Abbild ihres Gemahls gelegt, meinen königlichen Vater, der in seinem pharaonischen Ornat neben ihr sitzt und sie ein wenig überragt. Aber dennoch ist dieser Tempel allein ihr geweiht. Meine Augen gleiten zu der schweren Bodenplatte, die den Treppengang zu ihrer Grabkammer verschließt. Ich bin nur einmal dort unten gewesen, zusammen mit meinem Vater, als man ihre Mumie dort zur letzten Ruhe bettete. Sie trägt eine goldene Totenmaske und ruht in mehreren ineinander verschachtelten Särgen aus Zedernholz, die von einem Sarkophag aus Rosengranit umschlossen werden. Doch das weiß ich nur aus Erzählungen, denn ich war zu klein, um mich wirklich bewusst daran zu erinnern.
„Inedj her etsch, Mut-i, imachet her Wsir Netjer aa… - Ich grüße dich, Mutter, die du gerechtfertigt bist vor Osiris, dem großen Gott…“ Wie von selbst formen meine Lippen die heiligen ägyptischen Worte für die Frau, die mich geboren hat. Eine schöne und gebildete Königin, die mir so vieles geschenkt und mir die Liebe zur ägyptischen Kultur in die Wiege gelegt hat. Das alles weiß ich aus den Erzählungen meiner Amme und ich kann mich auch an den Schmerz in den Augen meines Vaters erinnern. Er hat sie geliebt, so wie er mich geliebt hat.
Psenamounis‘ geübte Stimme stimmt in mein Gebet mit ein und so vollziehen wir gemeinsam die Opferhandlungen, während Charmion mir das Wasser. Die Myrrhe und den Weihrauch reicht.
Die mit schwarzen Strichen verlängerten und aus Bergkristall geformten Augen meiner Mutter scheinen meinen Bewegungen zu folgen. Ihr Antlitz ist jugendlich und von zeitloser Schönheit. Sie trägt eine aus winzigen Zöpfen bestehende dreiteilige Frisur, deren Details der Künstler meisterhaft aus dem Stein herausgearbeitet hat, und darüber eine vergoldete Geierhaube und einem Modius aus Uräusschlangen. Ihr Ausdruck ist heiter und sie wirkt seltsam lebendig, auch wenn es sich bei der Statue um kein Portrait im hellenistischen Sinn handelt. Vielmehr ist es das Idealbild einer ägyptischen Königin – ein Kultbild, dass ihrer Seele als Wohnung dienen kann. An das wirkliche Gesicht meiner Mutter kann ich mich kaum erinnern. Immer wenn ich es versuche, sehe ich nur ihr verschwommenes Lächeln am Rande meines Bewusstseins. Und manchmal höre ich dazu eine Stimme, die ein Wiegenlied singt, ein längst vergessenes Lied aus der Zeit der Pharaonen.
„Erinnerst du dich an meine Mutter, Pa-Sheri-en-Amun?“, wende ich mich an Psenamounis, nachdem wir die Opfergaben dargebracht und die dazugehörigen Gebete verrichtet haben.
„Kaum, ich war acht oder neun Jahre, als sie starb“, gibt er zu. „Aber Psenptah erzählt manchmal von ihr, sie sind zusammen aufgewachsen. Deine Mutter war seine Tante, aber sie war eher wie eine ältere Schwester für ihn. Er nannte sie immer Tamerisa – die, die Weisheit liebt[2] – denn sie war voller Lebensfreude und besaß dasselbe Sprachtalent wie du.“
„Sie hat an der Tempelschule unterrichtet, oder?“
„Ja und sie sorgte dafür, dass die Kinder nicht nur Griechisch, sondern auch die makedonische Mundart lernten. Doch sie selbst besaß einen unstillbaren Hunger nach Wissen und überredete den Hohepriester[3], sie nach Alexandria gehen zu lassen, um Hofdame der Königin Tryphaena zu werden.“
„Und kaum war sie hier, widmete sie ihr Leben dem Studium alter Schriften und verbrachte jede freie Minute in der großen Bibliothek“, resümiere ich die bekannte Geschichte.
„Ja und dort fiel das Auge des Königs auf sie. Er diskutierte mit ihr, verliebte sich in sie und machte sie schließlich zu seiner Königlichen Gemahlin.“ Psenamounis schmunzelt einen Moment und sieht mich an. „Es hat uns immer mit Stolz erfüllt, dass eine Tochter aus der Priesterdynastie von Memphis an die Seite des Pharaos berufen wurde. Und es ist eine Ehre, ihrer Tochter zu dienen, die nun über die Beiden Länder[4] gebietet und das Blut der Ptolemäer und alten Pharaonen in sich vereinigt.“
Ich nicke bedächtig, denn mir ist durchaus bewusst, dass die Familie meiner Mutter ihre Abstammung bis zu Ramses dem Großen zurückverfolgen kann und darauf genauso stolz ist, wie die Familie meines Vaters auf ihr makedonisches Erbe.
Einen Moment schweigen wir beide und betrachten die Doppelstatue, die meinen Vater und meine Mutter in liebevoller Umarmung zeigt. Ein Herrscherpaar, das für eine kurze Spanne zwei Kulturen miteinander verbunden hat und dem doch viel zu wenig Zeit zusammen vergönnt war. Hier in diesem Grabtempel sind sie für die Ewigkeit vereint. Doch die Alexandriner haben ihre Verbindung stets mit Skepsis betrachtet, weswegen sie auch gegen mich waren und meinen Geschwistern noch immer den Vorzug geben.
„Ich muss zurück in den Palast“, besinne ich mich schließlich wieder auf die anstehenden Aufgaben und wechsele dabei unwillkürlich ins Griechische. „Begleitest du uns, Psenamounis?“
„Ich würde es vorziehen, noch eine Weile hier zu bleiben, Majestät. Wir haben später noch eine Besprechung mit der Priesterschaft der Nekropole“, antwortet Psenamounis nun ebenfalls in der Hofsprache und zögert dann kurz, bevor er weiterspricht. „Ich hatte eigentlich gehofft, Khered-Anch bei Euch anzutreffen und sie zu der Besprechung mitnehmen zu können.“ Er sieht mich fragend an.
„Ich habe ihr heute frei gegeben, sie fühlte sich nicht wohl“, doch bei Psenamounis‘ besorgtem Gesichtsausdruck spreche ich schnell weiter und versichere ihm, dass es nichts Ernstes sei. „Olympos hat vorsichtshalber nach ihr geschaut, also mach dir keine Sorgen. Ich würde dich aber bitten, heute Abend bei der Trauerfeier für Pompeius Magnus mit dabei zu sein. Ich weiß, dass es eine römische Zeremonie ist. Doch sie ist aus vielerlei Gründen wichtig.“
Psenamounis verzieht kurz das Gesicht, als leide er Schmerzen, fügt sich dann aber mit einem schicksalsergebenen Blick. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Psenamounis gehört zu meiner Familie und ist mir treu ergeben. Auch wenn ihm viele Dinge, die ich tue, absolut nicht behagen.
In Gedanken sende ich meiner Mutter noch einen stillen Gruß und verabschiede mich dann auch förmlich von Psenamouis und den Priestern, die in der Kultkammer zurückbleiben. Charmion und Apollodorus sind stillschweigend an meine Seite getreten. Zusammen mit den übrigen Hofdamen durchqueren wir den Vorhof und begeben uns zurück in die Welt der Lebenden.
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[2] Neuägyptisch, abgeleitet von: Ta-merit-saa (Ta mrt saa). Zu Kleopatras Mutter ist nichts überliefert, weshalb ich mir hier einige Freiheiten genommen habe. Die Inspiration zu diesem ägyptischen Kosenamen stammt von einer befreundeten Ägyptologin.
[3] Gemeint ist hier der Hohepriester Padibastet III., der Vater Psenptahs und in dieser Geschichte gleichzeitig der ältere Bruder von Kleopatras Mutter.
[4] "Die beiden Länder" ist eine uralte Bezeichnung für Ober- und Unterägypten, aber darin schwingen auch noch andere Dualitäten mit. "Herrin beider Länder (ägypt.: nbt tawj)" gehörte zur Titulatur einer ägyptischen Königin.