Der Wein wird nicht wie üblich aus einem Krater[5] ausgeschenkt, sondern aus einem runden Becken, das wie ein Teich vor dem Tempel in das Podest eingelassen ist und in dem sich scheinbar der Mond spiegelt – in Wirklichkeit handelt es sich um die Reflektion einer sichelförmigen Lampe aus Alabaster, die an der Decke des Saales angebracht ist, um diesen Anschein hervorzurufen. Nephoris greift in eine Schale mit Rosenblättern und wirft sie zur Aromatisierung auf die rote Fläche des Weinbeckens, bevor sie einen silbernen Kelch hineintaucht und ihn dann mit einem Tuch vorsichtig abtupft, um die Weintropfen zu entfernen. Mit einer Verbeugung reicht sie den Kelch anschließend ihrer Herrin. Arsinoe nimmt das Gefäß entgegen und schreitet damit direkt bis zur königlichen Kline, wo sie stehenbleibt, um sich tief vor dem König zu verneigen.
„Geliebter Bruder, als Pharao von Ägypten, allerhöchster Gottkönig und Alexanderpriester bitte ich dich um deinen Segen für dieses Weinopfer – auf dass Dionysos dieses Fest segnen möge und uns Erleuchtung und Erkenntnis schenke!“
Sichtlich geschmeichelt richtet Ptolemaios sich würdevoll auf und spricht die rituellen Segensworte über dem Kelch. Noch einmal verneigt sich Arsinoe, bevor sie einen tiefen Schluck aus dem Kelch nimmt und ihn dann an Ptolemaios weiterreicht, der ebenfalls einen symbolischen Schluck daraus nimmt und einige Tropfen als Opfergabe auf den Boden versprengt. Danach gibt er den Kelch an Maios weiter. Auch der Prinz trinkt daraus, um sich zur Kultgemeinschaft des Dionysos zu bekennen und gibt den Kelch dann an Charmion weiter.
„Deine Schwester weiß zu inszenieren. Aber inhaltlich ist das doch eine recht wilde Mischung, oder? Hält sie sich wirklich für eine Erbin der legendären Amazonen?“, fragt Caesar, während er den Kelch mit dem Opferwein von Charmion entgegennimmt, daran nippt und mir dann weiterreicht.
„Sie liebt die Sagen darüber. Und Arsinoe kombiniert gerne Neues, das macht ihre Feste so außergewöhnlich. Man weiß nie, was einen erwartet“, entgegne ich leise, bevor ich ebenfalls einen kleinen Schluck nehme und anschließend einige Tropfen für den guten Geist dieses Festes versprenge.
Während der Kelch kreist, hat Arsinoe wieder zu reden begonnen: „Der heutige Abend ist natürlich den Göttern geweiht, aber in besonderer Weise auch den heiligen Königen und Königinnen des Hauses Ptolemaios. Mein königlicher Bruder ist der Sohn der Sonne, der Pharao auf dem Horusthron, meine Schwester ist die Tochter der Isis und die Herrin beider Länder. Mein jüngster Bruder ist gemeinsam mit mir berufen, über Zypern zu herrschen – so wie die Tradition unseres Hauses dies seit der Zeit der Rettenden Götter[6] vorsieht. Das Haus Ptolemaios, das Haus des Adlers wird sich wieder erheben und in seinem alten Glanz erstrahlen – auch Dank der neuen Freundschaft mit Rom, die wir heute feiern.“ Und damit neigt sie tatsächlich kurz den Kopf in Caesars Richtung – was für Arsinoe bereits eine gewaltige diplomatische Leistung darstellt. „Und so mögen mit dem heutigen Tag die alten geschwisterlichen Bande gefestigt und erneuert werden. Wir sind die Geschwistergötter. Wir sind die Kinder des Neuen Dionysos und die Erben Alexanders. In unseren Adern fließt das Blut der Götter und Pharaonen. Wir entstammen einer Reihe siegreicher Feldherren und kriegerischer Königinnen, doch wir sind auch durch die Künste Apollons und der Musen verbunden. Erlaube mir, dir einen Tanz zu widmen, bevor ich nach Zypern aufbreche, mein geliebter Bruder, König und Pharao.“
Und damit verneigt sich Arsinoe zum dritten Mal vor Ptolemaios, der ihre Huldigung sichtlich geschmeichelt entgegennimmt. „Sehr gerne, geliebte Schwester. Ich mag deinen Tanz“, macht er ihr ein unbeholfenes Kompliment, „und dein, ähm, zukünftiger Gemahl sicher auch.“ Der neben dem König sitzende Maios nickt schnell, worauf Arsinoe beiden ein aufrichtiges Lächeln schenkt.
Immer noch vor der königlichen Kline stehend, blickt Arsinoe jetzt zu mir. „Kleopatra, meine verehrte Schwester und Königin, auch wenn ich zu diesem Symposion geladen habe, so will ich doch nicht den Eindruck erwecken, mich in den Vordergrund zu drängen. Dereinst haben wir beide gemeinsam vor dem Pharao, unserem Vater getanzt. Angesichts meines bevorstehenden Abschieds möchte ich dich einladen, gemeinsam vor unserem neuen König, unserem geliebten Bruder zu tanzen. In Erinnerung an alte Zeiten. Erweist du mir diese Ehre?“
Arsinoe blickt mir ernst entgegen und an ihrer Mine ist nicht erkennbar, ob diese Aufforderung nun als Friedensangebot oder Herausforderung gemeint ist. Vermutlich beides, denn sie hält sich für die bessere Tänzerin. Und wahrscheinlich hat sie viel geübt, während ich seit meiner Krönung kaum noch getanzt habe, was nicht heißt, dass ich es verlernt hätte. Wir hatten jahrelang denselben Unterricht und eine Ablehnung kommt ohnehin nicht in Frage. Mit einem hoheitsvollen Nicken signalisiere ich mein Einverständnis. „Wenn es unserem geliebten Bruder und dir eine Freude bereitet, sehr gerne.“
Caesar neben mir wirft mir einen skeptischen Blick zu, doch ich schüttele kaum merklich mit dem Kopf. „Eine Ablehnung wäre beleidigend“, flüstere ich, während ich mich bereits erhebe. Mit schwebenden Schritten bewege ich mich auf Arsinoe zu und auch sie kommt mir entgegen, so dass wir uns für einen kurzen Moment auf Augenhöhe gegenüberstehen. Sie in silber und weiß, ich in funkelndem Gold.
„Wollen wir?“, fragt sie mit einem zufriedenen Lächeln.
„Natürlich, wie in alten Zeiten!“
Synchron schreiten wir die wenigen Stufen hinunter, bis wir genau auf dem Artemis-und-Aktaion Mosaik in der Mitte des Saales zum Stehen kommen und die Grundhaltung einnehmen, während die Musik im Hintergrund einsetzt.
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[5] Als Krater wird ein großes Gefäß bezeichnet, das bei festlichen Anlässen, wie Symposien, zum Mischen von Wasser und Wein verwendet wurde.
[6] Mit den Rettenden Göttern meint Arsinoe hier den Dynastiegründer Ptolemaios Soter (Ptolemeios I) und seine Gemahlin Berenike I.