Mitarbeitertreffen:
„Ah, wir sind alle vollzählig“, lächelte die blonde Frau, die sich inzwischen als Samira vorgestellt hatte. Grund für diese Aussage war das Erscheinen einer anderen, jüngeren Frau mit Pferdeschwanz in dem kleinen Zimmer. Etwa dreißig Menschen drängten sich um einen weißen Tisch, auf dem wie zum Hohn ein paar Schalen mit Chips standen – knapp die Hälfte der Anwesenden war genau wie Max und Karo an ihre Stühle gefesselt.
„Was haben Sie mit uns vor?“, rief ein dunkelhaariger Mann und stemmte sich gegen seine Fesseln, dass der Stuhl zitterte.
„Nur eine kleine Mitarbeiterbesprechung“, lächelte Samira unschuldig.
„Lügnerin!“, rief Max. Auch seine Hände und Füße waren an Lehen und Stuhlbeine gefesselt. „Sie haben uns entführt!“
Der Mann, der zuerst die Stimme erhoben hatte, nickte ihm zu. „Wir werden keinen Finger für Sie rühren!“
Samira lächelte gelassen. Max zerrte an den Kabelbindern, die ihn an Ort und Stelle hielten. Die Stühle waren am Boden fest geschweißt. Sein Blick wanderte über die Anwesenden. Zwölf Menschen waren nicht gefesselt, sieben weitere trugen nur Fesseln aus losen Bändern. Sie wirkten nicht, als würden sie Widerstand leisten wollen. Etwa 20 Leute waren gefesselt. Neben Max atmete Karo schnell vor Angst.
Die Ungefesselten verfolgten, wie Samira einen Projektor anschaltete. Keiner von ihnen schien eingreifen zu wollen. Samira suchte auf dem angeschlossenen Computer eine Datei.
Auf die Wand projiziert startete ein Video. Es zeigte ein Haus. Der Mann, der bis eben noch gekämpft hatte, keuchte erschrocken auf. Die Kamera bewegte sich auf das Haus zu. Man sah eine Hand, die die Türklingel drückte. Eine junge Frau öffnete, die dem Gefesselten bis zum Verwechseln ähnlich sah und genauso alt schien.
„Saskia!“, rief der Mann entsetzt.
Die Frau im Video starrte auf den Träger der Kamera und kreischte. Das Bild wurde schwarz.
Samiras dunkle Augen hefteten sich an Max. „Du bist der Junge aus dem Studentenwohnheim, nicht wahr? Wie geht es deiner Mutter?“
Max erkannte die versteckte Drohung. Samira suchte das nächste Video.
„Ist mir doch egal!“, rief er laut. Er hatte kein besonders gutes Verhältnis zu der strengen, abweisenden Frau, die ihn geboren hatte. Das Video startete und zeigte einen dunklen Kellerraum, in dem sich etwas bewegte.
„Und dein kleiner Bruder?“, fragte Samira.
Max blieb das Herz stehen. Jimmy! Nein, ihm durfte nichts geschehen, nicht seinem Bruder! Er musste auf den Kleinen aufpassen!
Seine Miene musste ihn verraten haben, denn Samira lachte. Im Video wurde das Licht im Keller angezündet, und mehrere Menschen flohen hastig vor dem Unerkannten, der die Kamera führte. Max entdeckte die dunklen Locken von Jimmy sofort zwischen allen anderen.
Weitere Menschen am Tisch keuchten auf, bis auf die, die weniger schwer gefesselt waren. Sie kannten das Video bereits.
„Wenn ihr arbeitet und tut, was man euch sagt, wird ihnen nichts geschehen“, sagte Samira ruhig. Max fühlte sich, als sei ihm der Boden unter den Füßen entrissen wurden. Wie waren diese Leute an Jimmy gekommen? Und wann?
Was konnte er tun, um seinen Bruder zu retten?
Seine Gedanken rasten, doch sie kamen immer und immer wieder zu dem gleichen Schluss. Er war entführt, gefesselt, in der Hand von Irren.
„Dies ist das Hotel Cecilia“, berichtete Samira ruhig. „Ihr werdet heute Abend und am nächsten Morgen die Horrorshow führen. Verkleidungen liegen bereit. Es ist euch verboten, mit den Gästen der Show zu reden oder ihnen gar zu helfen. Ihr werdet die Speisen vorbereiten und ein paar Schrecken inszenieren. Ihr werdet nicht versuchen, zu fliehen. Jede Missachtung führt zur Verstümmelung bis hin zum Tod. Nicht eurem Tod. Wer sich gut anstellt, darf mit in das nächste Hotel kommen. Wer bis zum Ende durchhält, ist frei.“
Samira sah in die Runde. Max merkte, dass ihm heiß war. Er atmete zu schnell.
Er hatte Angst.