Auf dem Zeltplatz:
Amy rannte, so schnell sie konnte, hinter Mira her. Nur wenige Sekunden, vielleicht eine halbe Minute, nachdem der Schrei erklungen war, hatten sie die andere Gruppe erreicht. Luca und Sam kamen keuchend aus der anderen Richtung an.
Doch sie waren bereits zu spät. Die Zelte waren mit Blut bedeckt. Amys Blick wanderte über Hände und Füße, die scheinbar wahllos verstreut lagen. Ihr wurde übel.
Der Boden war feucht wie nach einem Regenguss, die Zelte von langen, scharfen Gegenständen zerfetzt.
„Es ist in den Bäumen!“, rief Samstag und drängte sie alle zurück von einer einzelnen Eiche, die mitten unter den Zelten stand. Tatsächlich machten die blutigen Überreste den Eindruck von Fallobst, als wären sie aus den Zweigen geregnet.
„Es sind nur drei Leichen!“, rief Mira. Wie sie so schnell einen Überblick über die verstreuten Teile bekommen hatte, was Amy ein Rätsel. Sie sah sich um, und tatsächlich entdeckten sie vier weitere Tourgäste, darunter den Rollstuhl. Sie waren doch entkommen, und nun flohen sie.
„Scheiße!“, rief Sam und sprintete los. „Sie rennen in den Wald!“
Amy folgte ihm und war dabei gerade noch geistesgegenwärtig genug, um einen Bogen um den einzelnen Baum zu schlagen.
Sie hetzten zwischen den Reihen von Zelten hindurch. Einen Moment fragte Amy sich, seit wann sie eigentlich auf die Gefahr zu lief, statt davor zu fliehen. Die Antwort kam ihr plötzlich in den Sinn, war eigentlich schon immer da gewesen. Seit sie kämpfen konnte. Seit sie wusste, dass Samira gestoppt werden musste.
Sam riss die Arme über den Kopf und schrie: „Heee!“
Die Tourgäste hörten ihn tatsächlich und drehten sich um.
„Nicht in den Wald!“, rief Mira.
Wenig später kamen sie keuchend bei den vier anderen an. Außer dem Rollstuhlfahrer hatten nur ein Mädchen und zwei Jungen überlebt. Alle vier zitterten und waren mit dem Blut ihrer Freunde bedeckt. Über die Wange des Mädchens zog sich ein langer, roter Schnitt.
„Was ist passiert?“, fragte Sam sie. „Was hat euch angegriffen, habt ihr etwas gesehen?“
Das Mädchen starrte ihn nur an. Der vermutlich türkische Junge, der auch den Rollstuhl schob, stieß das Mädchen an und sagte: „Ronja!“
Sie riss sich zusammen und starrte Sam mit großen Augen an, wie ein verschrecktes Reh. „Der Baum! Ich schwöre, es war der Baum!“
In diesem Moment ertönte ein Quietschen wie von einer Tür. Die acht Überlebenden wirbelten herum.
Sie starrten auf den Wohnwagen in der Mitte des Zeltplatzes, dessen Tür sich jetzt öffnete. Eine Frau kam heraus, an die sich Amy noch gut erinnerte.
„Maike!“, rief sie.
Die Tatsache, dass weder Sam noch Mira sich erfreut zeigten, ließ auch Amy zögern. Maike kam langsam auf sie zu, zwischen den Zelten hindurch. Bald konnte Amy erkennen, dass sie nicht lächelte.
„Wo ist Thomas?“, flüsterte Mira leise. „Der Wohnwagen ist zu hoch für einen Rollstuhl!“
Amy erinnerte sich, dass Maike und Thomas zuvor ein Zelt gehabt hatten.
„Da seid ihr“, sagte Maike. Sie ignorierte die vier Gäste der Tour vollkommen und sah allein Sam, Mira, Amy und Luca an. Sie sah wütend aus. Aber Amy konnte noch etwas anderes in ihrem Blick lesen als Wut. Trauer.
Sie wich vorsichtig zurück.
„Ihr seid an allem Schuld!“, sagte Maike und streckte die Arme aus. Plötzlich schien sich der Boden zu bewegen, die Erde wurde aufgewühlt wie von unzähligen Maulwürfen.
Amy spürte Miras Hand auf der Schulter, die sie nach hinten zog, auf den Wald zu.
„Was sollen wir getan haben, Maike?“, fragte Amys Meisterin.
„Ihr seid Schuld an Thomas' Tod!“, rief Maike. „Ihr ahnt ja nicht, wie wütend Samira war. Aber jetzt hat sie mir die Macht gegeben, mich zu rächen.“