Konfrontation:
Mira hielt im Laufen inne und bückte sich, um an einem kleinen Rädchen an der Seite ihrer High-Heels zu drehen. Als sie weiter lief und den drei anderen folgte, federten ihre Schuhe nicht mehr so stark wie zuvor. Das machte es einfacher, falls es zu einem Kampf kommen sollte.
Die beiden Wächter und ihre Novizen verfolgten Norman Bates, der – inzwischen wieder in normaler Kleidung – wiederum den Gästen folgte. Als das Fenster eingeschlagen wurde, waren alle Gäste geflohen. Zwei Mädchen hatten sogar noch daran gedacht, den Jungen im Rollstuhl mitzunehmen.
Mira hatte wenig von den Gästen der Tour gesehen. Die Menschen waren bisher unter sich geblieben. Soweit Mira das wusste, waren sie jetzt zum ersten Mal alle gemeinsam unterwegs. Das sprach nicht gerade für eine Gruppendynamik, die sie später nutzen könnten, aber Mira hoffte, dass sich das noch ändern würde. Ansonsten würde es Samira leicht fallen, die Gruppe im Streit auseinanderfallen zu lassen.
Für den Moment hielten die Zivilisten sich als große Gruppe zusammen. Manchmal fühlte Mira sich von Menschen, die ihr Leben nicht teilten, an Schafe erinnert. Eine panische Herde, die vor einem rätselhaften Geräusch floh. Ohne zu wissen, dass der Wolf sie trieb wie ein Schäferhund.
Vor ihnen schnappte Amy verräterisch laut nach Luft, als Samstag ein Messer zückte.
„Leise!“, befahl Mira ihrer Novizin. Sie war ein wenig beleidigt dadurch, wie ruhig Luca die ganze Situation ertrug. Warum bekam sie die unfähigere Novizin? Sam war doch der bessere Lehrer.
„Ihr könnt ihn doch nicht einfach so abstechen!“, zischte Amy.
„Noch nicht, das stimmt“, gab Samstag gedämpft zurück. „Aber falls er irgendeinen Trick versucht, werden wir uns und die Gäste verteidigen müssen.“
Statt sich zu beruhigen, sah Amy auf: „Noch nicht? Was meinst du, wir können ihn noch nicht töten?“
„Er ist verrückt“, erklärte Samstag ungeduldig und warf Mira einen schnellen Blick zu, als wollte er sie daran erinnern, dass Amy ihre Aufgabe wäre. „Er ist ein Teil der Show. Wenn wir ihn leben lassen, wird er vielleicht genauso weiter machen. Es reicht nicht, der Schlange den Kopf abzuschlagen, falls du das glaubst, denn dann wachsen ihr direkt sieben neue. Wir müssen alle töten, die wir im Verdacht haben, mit Samira und Brandon unter einer Decke zu stecken!“
Amy starrte Samstag entgeistert an. Sie hatten angehalten und Bates war in der Dunkelheit des Abends schon nicht mehr zu sehen.
„Wir warten, bis er alleine ist, und dann töten wir ihn“, sagte Samstag grimmig und fasste das Messer fester.
„Dann wissen sie aber Bescheid, dass wir hier sind“, murmelte Luca.
„Das wissen sie sowieso“, sagte Amy. „Wir haben die Werwölfe getötet.“
Sehr zu Miras Verwunderung nahm sie ihr eigenes Messer heraus. „Ist das hier der echte Norman Bates? Aus dem Film?“
Mira tauschte einen kurzen Blick mit Sam, aber die volle Wahrheit – dass es für jede Interpretation von Norman Bates einen „echten“ Norman gebe – war ihr für den Moment zu komplex. „Ja“, antwortete sie Amy.
„Dann wird er jede Frau töten, in die er sich verliebt, richtig? Weil er in seinem Wahn glaubt, dass er nur seine Mutter lieben darf.“
Mira lächelte. Eines musste man Amy lassen, sie kannte die Geschichten bestens. Und sie konnte gut interpretieren.
Sie nickte ihrer Novizin zu.
Amys Blick wurde hart. „Dann habe ich einen Plan.“
Sie erklärte ihn mit knappen Worten, und währenddessen wuchs Miras Bewunderung für ihre Schülerin. Wenig später stand sie mit Amy alleine am Straßenrand, dort, wo Norman vorbei kommen müsste, und gab sich alle Mühe, orientierungslos zu wirken. Sie stellte mit einem Seitenblick fest, dass Amys Hände nicht einmal zitterten.
Die Gäste der Hell-Hopping-Tour kamen vorbei, geführt von Norman. Mit schnellen Schritten ging Amy auf den Mann zu.
„Entschuldigen Sie, Mister!“
Norman Bates war verwirrt. Vermutlich waren sie in einer Blase, in der keine Menschen außer den Gästen der Show existierten. Amy fasste den verwirrten Mann am Ellbogen und bugsierte ihn unauffällig von der Gruppe weg.
„Wir haben uns verirrt, können Sie uns vielleicht helfen?“
Amy schlug die Augen schüchtern auf. Mira fand ihre Schülerin völlig verwandelt. Die Gäste sahen ihnen einen Moment zu, bevor sie vorsichtig weiter zogen, als lauere in dem Hotel ein furchtbares Monster.
„Nicht mehr lange“, murmelte Mira leise.
Sie entfaltete den Stadtplan, den Amy in ihrer Tasche gefunden hatte, als diese mit Norman Bates näher kam.
„Wir waren hier!“, begrüßte sie den Mann und deutete wahllos auf eine Straße. „Dann müssen wir die falsche Abzweigung genommen haben. Es tut mir furchtbar leid, aber wir laufen seit Stunden durch die Gegend – es ist wie verhext.“
So etwas geschah manchmal. Zivilisten konnten sich nach Phantasma verirren, obwohl das zum Glück selten war – man fand diese Menschen nicht wieder.
Norman schien zu dem Schluss gekommen zu sein, dass auch ihnen das geschehen war. Er musterte Amy und Mira verwirrt. In seinen Augen lag ein seltsam hungriger Ausdruck, der Mira einen Schauer über den Rücken jagte.
„Können Sie uns vielleicht ein Taxi rufen?“, fragte Amy liebenswürdig.
„Kommen Sie doch mit zum Motel“, schlug Norman wie gehofft vor. Mira spürte förmlich, wie er seine Falle wob. „Heute Abend kommt kein Taxi mehr, aber morgen früh sollte ich eines rufen können.“
Der Mann brauchte also Zeit zum Nachdenken. Oder Zeit, um in ein neues Kostüm zu schlüpfen.
Sie merkte, dass sie nervös war, als sie dem Mann gemeinsam mit Amy in die Höhle des … Tierpräparators folgte.
Amy dagegen ließ sich ihre Angst nicht anmerken.