Prioritäten:
Max starrte auf den Park hinaus, ein verfallenes, trauriges Meer verlassener Hütten und Fahrgeschäfte. Doch zwischen den Wegen bewegte sich manchmal etwas, huschte grau über den Weg und … kicherte.
Etwas raschelte leise hinter ihm – Samiras Äquivalent eines höflichen Hüstelns.
Max drehte sich um und sah die blonde Frau an. Ehrfurcht erfüllte ihn, und der Wunsch, ihr mit allem Sein zu dienen. Nicht, weil sie schön war, oder weil er sie bewunderte, sondern wegen der Macht, die sie ihm versprochen hatte. Macht, um Jimmy zu retten und seine Mutter für all die Jahre des Leidens zu bestrafen.
Samira klappte einen kleinen Handspiegel auf und überprüfte kritisch ihr Aussehen.
„Jetzt seid ihr nur noch zu dritt. Jason, wen möchtest du heute rauswerfen?“
„Darf ich entscheiden?“, fragte er überrascht.
„Nein. Ich entscheide“, sagte Samira. „Trotzdem will ich deine Meinung hören.“
Mit einem leisen Knacken klappte der Handspiegel zu, sie musterte ihn. Ihre Augen, die sich in Max' eigene bohrten, und vielleicht auch in die Seele dahinter, erschienen ihm gelb wie die einer Schlange.
„Es ist doch klar, oder nicht?“, fragte er vorsichtig. „Ich muss Karo raus werfen, wenn ich nicht selbst raus möchte.“
Samira legte den Kopf schief. „Und wenn du freie Wahl hättest – wen würdest du dann loswerden? Jason oder Karo? Und warum?“
Max überlegte. „Wenn ich komplett frei wäre, dann Jason. Er ist eine Gefahr für mich, Karo nicht. Wenn ich Jason raus werfe, habe ich bereits gewonnen. Aber …“
Samiras Blick war lauernd. „Aber?“
„Aber mir wäre es lieber, Karo raus zu werfen“, erklärte Max zögernd. „Ich meine, wenn es nicht um so viel ginge.“
„Das ist interessant“, sagte Samira und kam näher. Max fand, dass sich ihre Miene aufhellte. Unwillkürlich wich er zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. „Warum?“, fragte Samira.
„Weil ich Herausforderungen mag“, gestand Max. „Und Jason ist eine.“
Samira war jetzt kaum eine halbe Armeslänge entfernt. „Wie praktisch. Denn Karo wird fliegen. Allerdings dachte ich mir, sie könnte doch den Wächtern helfen, wie schon zuvor. Nur eben auf ihrer Seite, auf der Seite der Verlierer.“
„Karo hat ihnen geholfen?“, fragte Max benommen, davon abgelenkt, wie heiß die Nacht plötzlich geworden war.
Samira nickte. Ihre Augen wanderten ruhig von seinem rechtem zum linken Auge und wieder zurück, immer hin und her, als suche sie dort etwas.
„Maximilian, ich werde jetzt deine Seele verlangen“, sagte sie ruhig. Max' ganzer Körper kribbelte vor Angst.
„Du musst dir keine Sorgen machen, du brauchst sie nicht mehr“, sagte Samira. „Aber die Tradition verlangt, dass du dafür einen Wunsch frei hast. Abgesehen von der Macht, die ich dir geben werde.“
„Einen Wunsch?“, fragte Max. Sein Atem ging flach. Ja, Samiras Augen glitzerten, gelb wie von einem Krokodil.
„Am besten einen menschlichen Wunsch. Reichtum und Schönheit wirst du später noch haben. Wünsch dir etwas, dass du dir ohne Seele nicht mehr wünschen wirst“, schlug Samira vor, ihr Gesicht viel zu nah an dem von Max.
„Jimmy!“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Lass Jimmy frei, alles andere ist mir egal.“
Er spürte ihre Hand am Hinterkopf, die Finger fassten seine Haare.
„Das ist nur fair“, sagte sie und lächelte. „Das könnte jetzt ein bisschen weh tun …“
Sie küsste ihn. Aber Max bekam es kaum mit, denn sobald ihre Lippen die Seinen berührten, spürte er ein Ziehen tief in der Magengegend, als würde man versuchen, ihm mit einem Haken aus glühendem Eisen die Innereien herauszuzerren. Er stöhnte auf. Seine Knie gaben nach, aber Samiras Griff hielt ihn unerbittlich aufrecht.
Dann begann der Zug. Max wollte in eine Ohnmacht flüchten, doch er konnte nicht. Trotzdem füllte Schwärze sein Bewusstsein, bis es nichts mehr gab als den feurigen Schmerz – bis dieser durch etwas Neues ersetzt wurde, süß und klar wie Honig.
Er lächelte, als Samira sich von ihm löste und ihm auf die Schulter klopfte. „Jetzt gehörst du mir.“