Geheimnisse:
Der fremde Wagen fuhr sich ungewohnt. Karo hatte alle Hände voll damit zu tun, mit Kupplung und Lenkrad zu kämpfen. Ihr Herz raste. Nicht nur, dass sie Fahranfängerin war – sie hatte ihren Führerschein erst ein paar Wochen – sondern sie spürte auch die Blicke der Gäste in ihrem Nacken. Und sie fühlte sich furchtbar. Diese Menschen hofften, dem Grauen endlich entkommen zu sein. Karo konnte das nur zu gut nachempfinden. Sie selbst wollte einfach nur noch nach Hause.
Stattdessen bekamen die Gäste die Hoffnung vor die Nase gehalten, um dann enttäuscht zu werden.
Jason, der den Wagen vor ihr fuhr, blinkte plötzlich. Eilig stellte Karo ihren eigenen Blinker an, und Max, der ihnen folgte, tat es ihnen gleich.
Karos Finger waren schweißnass, während sie den Wagen auf den verlassenen Parkplatz einer kleinen Raststätte fuhr. Die drei Autos parkten nebeneinander.
„Warum halten wir?“, fragte ein Mädchen von hinten.
„Wir müssen tanken“, sagte Karo, wie Samira es ihr eingeschärft hatte – in einer ziemlich schrecklichen halben Stunde, nachdem Karo, Max und Jason für diese Aufgabe ausgewählt worden waren. „Wir und die Autos.“ Sie lachte und hoffte, dass es nicht gezwungen wirkte. Die Gäste mussten ihr vertrauen.
Draußen wurde der Rollstuhlfahrer bereits umgesetzt.
„Kommt doch mit“, schlug Karo vor. „Vielleicht gibt es dort ein Telefon.“
Das überzeugte die verängstigten Jugendlichen. Die ganze Gruppe stieg aus und bald besetzten sie drei Tische in der Gaststätte, die natürlich kein Telefon hatte.
„Warum nochmal seid ihr mit drei leeren Autos unterwegs?“, fragte der Rollstuhlfahrer, nachdem eine gelangweilte Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte. Karo sah der Frau hinterher, die ebenfalls aus ihrem Grüppchen der Bediensteten stammte. Max antwortete. „Das ist unser Job. Wir bringen die Autos von einer Filiale zur nächsten. Dabei können wir direkt kontrollieren, ob sie gut fahren. Ein unglaubliches Glück für euch.“
„Jaaa“, sagte der andere Junge gedehnt. „Glück.“
Karo spürte, wie die Situation ihnen entglitt. Das Misstrauen könnte alles zerstören. Sie brachte es trotzdem nicht über sich, etwas zu sagen. Diese Menschen hätten die Freiheit doch verdient!
„Und woher kennt ihr euch?“, fragte ein Mädchen jetzt, angesteckt von der ungesunden Neugier des Jungen. Karo warf einen nervösen Blick zu Max und Jason.
„Wir haben in dem gleichen Kaff gewohnt“, sagte Max lässig. „Bad Grönenbach.“ Er deutete auf Jason und dann auf sich.
Jason ging darauf ein. „Als ich studieren wollte, kam der Typ einfach hinterher“, meinte er.
„Ich hatte die Idee zuerst!“, behauptete Max. Beide klangen, als wären sie seit Jahren beste Freunde. Karo war erstaunt. Sie fuhr zusammen, als Jason unvermittelt ihre Hand ergriff. „Karo und ich haben uns in einer Disco kennengelernt.“
Er sah sie mit einem unglaublich süßen Blick an und Karo lächelte zurück. Ihr Herz schlug schneller, als Jason ihre beiden Hände auf dem Tisch platzierte. „Sie wollte unbedingt die Welt sehen.“
Karo nickte. „Aber Deutschland ist ein Anfang.“
Mehrere Mädchen am Tisch kicherten. Karo merkte, dass Jasons Lüge sie vollständig überzeugt hatte. Sie beugte sich vor und küsste ihn, ein kurzer, flüchtiger Kuss, als wären sie schon Jahre zusammen. Ihr rasendes Herz beruhigte sich ein wenig, oder immerhin raste es nicht mehr vor Angst. Sie lehnte sich gegen ihn und war so unendlich dankbar, dass er bei ihr war, dass sie Max' missbilligenden Blick nicht bemerkte.