Eine Bootsfahrt, die ist lustig:
Fast automatisch drängten sie sich zusammen wie Zivilisten. Mira fand, dass allein Sam noch die Ruhe bewahrte. Sie selbst kam sich nackt und ungeschützt vor, seit man ihnen die Sender abgenommen hatte. Beim letzten Mal hatten sie darüber ihre Umgebung überwachen können, jetzt fehlten sie ihnen.
„Ich nehme mal an, heute klettern wir nicht auf das Riesenrad?“, fragte Sam leise.
Mira schüttelte den Kopf. Jetzt wäre es zu riskant, die Schüler und Zivilisten alleine am Boden zu lassen.
Aber sie mussten einen sicheren Weg durch den Park finden, am besten diesmal ohne, dass sie getrennt wurden.
„He, da vorne!“, rief einer der Tourgäste plötzlich. Mira glaubte, dass er Salim hieß. „Da ist eine Bootstour!“
„Sehr gut!“, meinte Sam, und sie eilten auf die Holzhütte zu, von der die Boote starteten.
„Ich wette, diese Clown können schwimmen“, murrte Mira, aber trotzdem kletterten sie auf das Boot, das durch das Wasser schwankte. Zum Glück war das Deck flach und deshalb auch für den Rollstuhl zugänglich.
„Ich denke mal, im Wasser können sie sich schlecht ungesehen anschleichen“, meinte Luca und sah sich um.
Mira erinnerte sich daran, wie die Clowns sie beim letzten Mal fast von Anfang an verfolgt hatten. Ihr Atem stieg als Wolke vor ihrem Mund auf und sie zog die Ärmel des gestohlenen Hemdes über die Hände.
„Was meinte sie damit, dass es dieses Mal anders ist?“, fragte Amy.
„Ich bin mir sicher, dass wir das noch herausfinden“, sagte Sam mit einem überhaupt nicht angebrachtem Optimismus. Er wandte sich an Karo: „Es sei denn, du weißt etwas?“
Karo schüttelte den Kopf. „Samira hat mir nichts erzählt. Max ist ihr Liebling. Ich wette, er wüsste es. Aber mir und Jason …“
„Genau, Jason!“, warf Luca ein. „Wer ist das, dein Freund?“
Karo zuckte mit den Schultern. „So ähnlich. Er ist von der vorherigen Tour geblieben, kennt ihr ihn?“
„Er kam mir vertraut vor“, überlegte Sam, aber er schien sich genauso wenig erinnern zu können wie Mira.
„Du solltest ihm nicht vertrauen“, riet Sam.
„Aber er hat mir geholfen!“, sagte Karo. „Ohne ihn hätte ich längst aufgegeben.“
Sam schwieg. Dann sagte er: „Ich kann es nicht beurteilen.“
Amy beugte sich diesmal vor: „Was heißt, Max ist ihr Liebling?“
„Er hat sich mit Samira verbündet oder so“, erklärte Karo. „Er tut wirklich alles, was sie sagt.“
Mira seufzte. „Sie hat ihn auf ihre Seite gezogen.“
„Ich fass es nicht!“, zischte Luca. „Max ist jetzt böse?“
„Das Böse wirkt manchmal sehr verlockend“, brummte Sam. „Ist wahrscheinlich dieses Stockholm-Syndrom.“
Ehe sie weiter Vermutungen anstellen konnten, erschütterte plötzlich ein Schlag das kleine Plastikboot. Mit erschrockenen Aufrufen ging die Besatzung in die Hocke und klammerte sich irgendwo fest, als das Boot bockte. Der Rollstuhl rutschte, trotz angezogener Bremsen, über das Deck.
„Nicht gut!“, meinte Sam und sah sich um. Es war nichts zu entdecken, gegen das sie gestoßen sein konnten. Inzwischen war das Boot mitten auf einem großen, stillen See. Das Wasser wirkte klar, aber bei näherem Hinsehen merkte Mira, dass sie nur die ersten paar Handbreit Wasser durchdringen konnte. Darunter folgte eine hellbraune Schicht aufgewirbelten Schlamms.
Sam packte eines der Ruder, die an der Seite angebracht waren, und stieß es ins Wasser. „Schnell, runter vom Wasser!“
Mira schnappte sich ein zweites Ruder, Amy und Luca die beiden restlichen. Salim und Ronja hielten den Rollstuhl fest, Karo hockte im Bug.
„Was ist hier los?“, fragte Tobias mit blassem Gesicht. Plötzlich stiegen überall um das Boot herum Luftblasen aus dem Wasser. Als die vier zu rudern begannen, folgten die Luftblasen ihrem Boot.
„Loch Ness!“, zischte Sam, der sich wohl nicht die Zeit für längere Erklärungen nehmen wollte. Mira spürte einen Zog im Wasser, der ihr Boot zu sich zerrte, zurück zu den Blasen. So heftig sie auch ruderten, sie kamen nicht von der Stelle.
Plötzlich hob sich etwas hinter ihnen aus dem brodelnden Wasser, grau und mit grünen Algen bewachsen, als wäre das Unkraut vom Seegrund lebendig geworden. Ronja kreischte, als das unförmige Etwas zu einem Buckel wurde, mit einem tiefen, schwarzen Loch voller Wasser in der Mitte und mehreren Reihen gelber Zähne wie ein Kranz um den Eingang. Ein riesiges Maul.
Das Boot wurde zurückgezogen. Mira stieß das Ruder voller Wut ins Wasser. Noch etwas länger, und sie würden schwimmen müssen, und dazu den Rollstuhlfahrer zurück lassen. Doch durch das Wasser wanden sich wie schwarze Schlangen die dünnen Tentakel des Wesens.
Karo hob einen Haufen Seile aus dem Bug auf, stolperte nach hinten und schlug damit nach der Insel, die sie zu fressen versuchte. Es gab einen lauten Knall wie von einer Peitsche, dann ein Heulen und der Zog ließ plötzlich nach. Das Maul klappte zu und eine Flutwelle warf ihr Boot an das grüne Ufer. Sam und Mira packten den Rollstuhl und warfen ihn an Land, wo dessen Fahrer beinahe heraus fiel. Alle retteten sich auf die Uferböschung und dann auf den Kiesweg darüber.
Hinter ihnen lag der See still und friedlich da. Trotzdem suchte Sam das Ufer nach dünnen, tastenden Tentakeln ab.
„Die Insel da hinten“, flüsterte Luca, „die war eben noch nicht da, oder?“
Tatsächlich ragte ein Felsen aus dem glatten Wasser, an den sich keiner von ihnen erinnern konnte. Nicht weit vom Ufer entfernt spülte das Wasser um seine Riffe. Mira fühlte sich beobachtet.
„Gehen wir“, sagte Sam, was hoffentlich die bessere Entscheidung war.