Wolfsruf:
„Karo“, sagte der Wolf.
Seine gelben Augen waren groß wie zwei Monde. Karo erkannte Jasons Stimme wieder, obwohl sie sich mit einem tierischen Knurren zu vermengen schien. Für einen Moment blieb ihr der Atem weg, denn die Lufttemperatur schien mit einem Mal um viele Grad gesunken zu sein.
Als sie wieder atmen konnte, klang es wie ein Keuchen.
Der Wolf starrte sie an, seine Augen leuchteten fahl. Karo hörte plötzlich nur noch ihren Herzschlag, dann wieder seine Stimme, obwohl sich diesmal das große Maul nicht bewegte.
Karo.
Er rief sie zu sich. Karo wich zurück. Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Die Stimme, eben noch sanft und schmeichelnd, wurde jetzt hart.
„Komm her!“, knurrte der Wolf, seine Augen blitzten auf. Karo presste die Kiefer aufeinander. Sie kämpfte gegen die Trägheit an, die von ihr Besitz ergreifen wollte.
„Nein!“, sagte sie.
Sie sah, wie Amy nach vorne stolperte, um Tobias aufzuheben, und hörte, wie Luca ihre Namen rief.
Karo wollte sich nicht länger belügen lassen. Sie würde Jason nicht mehr vertrauen. Ihr Platz war hier, bei Amy und Luca, auf der Seite der Menschen.
Doch der Wolf grinste. Im nächsten Moment fuhr ein Schmerz durch Karos Brustkorb, als hätte man sie mit einem Speer durchbohrt. Sie sackte keuchend nach vorne auf die Knie und grub die Hände in ihre Kleidung.
Tränen liefen ihr über die Wangen und sie rang nach Atem. Als der Schmerz ein wenig nachließ, begegnete sie dem Blick des Wolfes.
Du gehörst mir, sagte seine Stimme in ihrem Kopf. Und Karo verstand es in einem einzigen, furchtbaren Moment. Sie sah wieder, wie Jason ihre Hand ergriffen hatte, nach dem Versprechen, dass sie füreinander da sein würden. Sie spürte erneut seine Lippen auf ihren, aber in ihrer Erinnerung schmeckten sie plötzlich nach Fäulnis und Gift.
Ihr Herz raste und ihre Lunge fühlte sich an wie mit Nägeln gespickt. Tief in ihr wand sich Karos Seele in einem dunklen, bösartigen Griff.
„Deal“, sagte der Jason in ihrer Erinnerung und küsste sie. Karo verstand endlich, dass er mit diesem Kuss ihre Seele erkauft hatte, dass sie seit jenem Tag verloren war, und schon viel länger, als Jason begonnen hatte, sich in ihr Herz zu schleichen.
Sie blinzelte und stellte fest, dass sie direkt vor dem schwarzen Wolf stand. Sein Maul war so groß, dass er sie mit einem Bissen verschlingen konnte. Seine leuchtenden Augen sagten ihr, dass er ihr noch viel mehr antun würde.
Mit einem wölfischen Grinsen betrachtete er sie. „Gut. Geh zum Hotel und warte dort auf mich.“
Karo senkte den Kopf und nickte. Sie wusste, dass sie sich seinen Befehlen nicht widersetzen konnte. Wie von selbst setzte ihr Körper sich in Bewegung. Mit tränennassen Wangen gab sie auf.