Moralisches Philosophieren:
Was auch immer sie ihren Schülern erzählte, Mira konnte sich mit der Ausrede „Nur eine Figur“ nur wenig beruhigen.
Natürlich klammerte sie sich an diesen Unterschied, zwischen realen und fiktiven Personen, denn anders konnte man einen Job wie den ihren nicht ertragen. Aber es wurde doch immer schwieriger, die Figuren mit menschlichen Fähigkeiten auch als bloße Figuren zu sehen.
Es waren Menschen mit Gefühlen, Motivationen, Gedanken und Wünschen. Personen, zu denen echte Menschen sich hingezogen fühlen konnten, oder die sie verachten konnten. Und war das nicht im Grunde, was Leben bedeutete? Mit anderen interagieren können, sich bewegen und empfinden?
Mira wusste, dass die ganze Welt um sie herum nur aus Worten bestand, aus Ideen und Gedanken, aber trotzdem war es eine reale Welt. Deswegen war es ja so schwer, den Unterschied zwischen Fantasie und Realität festzustellen, und den allermeisten gelang das irgendwann nicht mehr.
Die Gruppe lag auf der Lauer und überlegte, wie sie Hannibal Lecter am besten ausschalten konnte. Die Gäste waren im Haus, aber Lecter würde sicherlich versuchen, einen von der Gruppe zu trennen und dann zu töten. Zuvor mussten Mira und die anderen einschreiten und selbst zu Mördern werden – obwohl ein Gericht anerkennen musste, dass es literarischer Mord war und deshalb nicht so schlimm.
Sie empfand langsam Übelkeit bei dem Gedanken, den Mann zu verletzen. Egal, wie viele echte Menschenleben es retten könnte.
„Scheiße!“, sagte Sam unvermittelt.
„Was?“, fragte Mira gedämpft und warf einen alarmierten Blick zum Fenster. Sie saßen nah bei der Hütte und beobachteten den Raum, in dem sich die Gäste der Tour zusammendrängten – langsam lernten diese Zivilisten die Grundsätze des Überlebens in Horrorwelten kennen.
Amy und Luca behielten in der Zwischenzeit den Wald im Blick.
„Die Mädchen sind noch nicht zurück!“, sagte Sam und sah auf die Uhr.
Vor Kurzem waren zwei Mädchen auf Toilette gegangen. Die Wächter hatten sich nichts dabei gedacht, immerhin war ja keines der Mädchen alleine gewesen.
Jetzt überlief Mira ein ängstlicher Schauer. Hatte Hannibal etwa beide Mädchen angegriffen?
Sam schien das zu glauben, denn er sprang auf und rannte zum Vordereingang der Hütte. Als ihr ehemaliger Meister stolperte und ein würgendes Geräusch von sich gab, verlangsamte Mira ihre Schritte.
Sie wollte nicht um die Ecke sehen, tat es aber trotzdem.
Die Mädchen waren bereits tot. Ihre Körper lagen, in transportierfertige Einzelheiten zerlegt, neben dem Eingang zum Keller. Blut hatte die Erde durchtränkt und der metallische Geruch verkündete Unheil. Mira atmete in die Hand, um sich nicht übergeben zu müssen und hielt Amy und Luca zurück.
„Das ist nicht angenehm“, warnte sie die beiden. „Seht trotzdem hin, ihr werdet euch leider an sowas gewöhnen müssen.“
Beide wurden sofort grün im Gesicht.
„Versucht, euch nicht zu übergeben“, sagte Sam und fügte dann eine Reihe von Schimpfwörtern in verschiedenen Sprachen an. „Wir waren nicht schnell genug!“
„Warum tut er das?“, fragte Amy mit schwacher Stimme. Mira sah, dass ihre Beine zitterten.
„Lässt sich leichter tragen und weiter verarbeiten“, meinte Sam nüchtern. Es war Luca, der würgen musste, während Amy sich erstaunlich tapfer hielt.
Plötzlich erstarrte Mira. Es war nur ein Gefühl gewesen, so als hätte man sie beobachtet. Ihr Nacken kribbelte.
Sie fuhr herum und sah einen dunklen Schatten auf sich zu kommen, im Mondlicht quer über den Parkplatz zu sehen. Er war vielleicht noch zehn Schritte entfernt.
Mira stieß einen spitzen Schrei aus, als sie das blutige Messer in der Hand des Schattens bemerkte.
Hannibal Lecter.
„Er hat uns gehört!“