"Vermisst du ihn manchmal auch?", frage ich Dizzi. Sie blickt von ihrem Buch auf und schaut mich fragend an.
"Wen?"
Ich deute zum Fenster. Dicke Gitterstäbe liegen vor dem Fenster.
"Den Himmel, die Freiheit. Vielleicht auch einfach Mal andere Luft."
Dizzi rümpft die Nase.
"Du hast Recht. Es stinkt."
Ich muss unwillkürlich lachen. Sie hat Recht. Es stinkt tatsächlich, aber darauf wollte ich nicht hinaus.
Stille kehrt wieder ein und ich beobachte Dizzi dabei, wie sie wieder in ihrem Buch versinkt.
"Du starrst", kommentiert sie nach kurzer Zeit. Ich wende den Blick ab, nicht verlegen, viel mehr nachdenklich. Dizzi redet nie viel und wenn sie es doch tut, dann meist schwachsinnig oder ironisch. Ich weiß nicht genau, warum sie hier ist, aber wäre sie gefährlich, hätten sie sie wohl nicht, mit mir gemeinsam, in ein Zimmer gesteckt.
"Was willst du machen, wenn du hier raus kommst?", versuche ich erneut ein Gespräch zu beginnen.
"Ich komme hier nicht mehr raus", gibt sie überzeugt von sich, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
Ich weiß nicht, was ich erwiedern soll, ob es darauf überhaupt etwas zu erwiedern gibt. Schließlich ist es zu meiner Überraschung doch Dizzi, die die Stille wieder bricht. Ihre Stimme ist melancholisch.
"Früher hatte ich Träume. Ich wollte mein Abitur machen und Medizin studieren. Es war nicht geplant, dass ich hier ende. Aber warscheinlich habe ich das verdient."
Ich stocke. Mein Blick geleitet durch die Gitterstäbe und ich betrachte den blauen Himmel, der mir verlockend entgegen strahlt.
"Ich möchte eines Tages dort draußen stehen, unter dem großen, freien Himmel und einfach nur frei Atmen können", spreche ich meine Träume aus.
"Dafür kannst du auch in den Hof gehen."
Dizzi klingt hämisch.
"Du weißt, dass ich das nicht kann."
Ich klinge verletzt.
"Du willst doch nur nicht."
Ich wende mich ab, weil ich weiß, dass sie Recht hat. Ich höre, wie sie energisch das Buch zuschlägt.
"Weißt du", beginnt sie. "Ich verstehe dich nicht. Du vermisst etwas, was du jederzeit haben kannst. Du beklagst dich, obwohl du eine Wahl hast. Wenn du nicht hinaus gehst, bist du selbst schuld. Die ganze Welt steht dir offen und du bist zu feige, um sie zu betreten."
Mir treten Tränen in die Augen.
"Hör auf."
Meine Stimme zittert bedrohlich. Sie sehe aus dem Augenwinkel, wie sie das Buch wieder aufklappt und weiter liest. Schuld und Sühne steht auf dem Cover ist großen schwarzen Buchstaben. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum sie hier ist. Aber ich weiß, dass sie mir nicht antworten wird.
"Dizzi?", frage ich dennoch nach einiger Zeit in die Stille hinein.
Sie schaut erneut auf.
"Ja?"
"Vermisst du ihn nicht?"
Diesmal weiß sie genau, was ich meine. Sie schlägt ihre Augen nieder.
"Doch. Warscheinlich vermisse ich den Himmel mehr als alles andere. Aber ich habe ihn nicht verdient."
Erneut schleicht sich eine Frage auf meine Lippen.
"Warum?"
Ihre Lippen sind zu einem nachdenklichen Lächeln verzogen.
"Weil das hier meine Alternative ist."
Ich frage mich, von welcher Alternative sie spricht. Erneut fällt mein Blick auf ihr Buch: Schuld und Sühne