Als ich das erste Mal durch den Spiegel ging, wusste ich nicht, wohin er mich bringt. Für mich waren Spiegel nichts weiter, als sich selbst zu betrachten, zu bewerten und wenn möglich auch etwas zu ändern. Ich hätte mich nie als oberflächlichen Menschen bezeichnet, aber ich achtete auf mein Äußeres stets gewissenhaft. Vielleicht war es auch etwas ironisch, dass ich mit 17 das erste Mal durch den Spiegel ging und erst mit über 80 Jahren erkannte, was mir der Spiegel zeigen wollte. Jetzt ist es mir nicht mehr möglich durch den Spiegel zu gehen. Das Glas hat sich verschlossen. Vielleicht liegt es daran, dass ich beherzigt habe, was der Spiegel mir zeigen wollte, oder daran, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin. Aber wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass die Spielwelt nicht mit meinem Rollstuhl kompatibel bin. Aber auch so weiß ich, was mich auf der anderen Seite erwarten würde. Meine Welt würde gespiegelt und mein Charakter dupliziert werden. Dafür sind Spiegel schließlich da: um zu spiegeln. In meinem Fall eben nicht nur mein Aussehen, sondern auch meinen Charakter. Inzwischen achte ich nicht mehr auf mein Aussehen. Nicht, weil es unwichtig geworden ist, sondern weil meine Hände verkümmert sind, wie so viel anderes an meinem Körper. An guten Tagen gelingt es mir, die Kaffeetasse zu halten. An schlechten Tagen kann ich nicht einmal meinen Kopf aufrichten. Eigentlich hätte ich gedacht, dass ich verbittert werde, wenn ich mich eines Tages nicht mehr eigenständig bewegen kann. Aber ich wüsste, was der Spiegel dazu sagen würde. Also lasse ich jetzt jeden Tag zweimal den Pflegedienst kommen. Ich weiß nicht, ob sie mich voller Mitleid anschauen, oder ob das der normale Gesichtsausdruck der Pfleger ist. Vielleicht ein bisschen von beidem. Früher bin ich täglich durch den Spiegel gegangen, mit dem Alter wurde es seltener. Entweder, der Spiegel hatte mir weniger zu zeigen, oder mein Leben auf dieser Seite ließ mir keine Zeit. Auf der anderen Seite nannten sie Menschen wie mich Spiegelgänger. Ich weiß bis heute nicht, ob das eine Beleidigung war.
Früher waren Spiegel für mich lebendig, voller Schatten, Reflexionen und Täuschungen. Jetzt ist es nur noch kaltes Glas. Meine Hand schafft es schon lange nicht mehr, den Spiegel zu berühren. Er ist zu weit weg. Stattdessen erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich vor dem Spiegel sitze und mich betrachte. Manchmal stundenlang. Die Pfleger denken, ich bekomme nicht mit, dass sie mich für verrückt halten. Am Anfang dachten sie einfach, ich wäre eitel. Ich verstehe nicht das neumodische Wort, mit dem sie mich bezeichnen. Wahrscheinlich könnte mir der Spiegel es erklären, aber er besteht nur noch aus Glas. Einmal in meinem Leben würde ich gerne erneut durch den Spiegel steigen. Einfach um vor dem Tod nochmal die andere Seite zu sehen. Vielleicht sollte ich das wirklich tun. Aus dem Rollstuhl raus, in der Hoffnung, dass er verhindert, dass ich durch den Spiegel kann.
Meine Hand zittert. Ich versuche mich aus dem Rollstuhl zu heben. Meine Kraft reicht kaum und meine Beine geben unter mir nach. Der Boden ist wärmer, als ich erwartet hätte. Als ich in den Spiegel blicke, habe ich das Gefühl, als wäre ich wieder siebzehn Jahre alt und würde erstmalig durch den Spiegel gehen. Meine Hand steckt sich vor. Die Schultern schmerzen, ebenso wie die Hüfte. Ohne die Schmerzmittel könnte ich wahrscheinlich nicht einmal schmerzfrei atmen. Die Finger treffen auf den Spiegel und gleiten hindurch. Es fühlt sich an, als würde das Glas nicht existieren.
Ich robbe nach vorne, so weit, wie mich meine nutzlosen Beine lassen.
Kurz darauf stoße ich mit der zweiten Hand durch den Spiegel. Mein Kopf folgt, dann mein Oberkörper. Mich verlässt alle Kraft, die mir noch geblieben ist. Als ich die Augen wieder öffne, erblicke ich ein Badezimmer. Ein leerer Rollstuhl, steht vor einer Badewanne. Neben mir zwei Beine. Ich kann den Kopf zu wenig drehen, um zu erkennen, welcher Oberkörper zu ihm gehört. Wahrscheinlich einer von den Spiegelgängern die auf dem Weg verloren gegangen sind. Ich habe Geschichten von ihnen gehört. Sie sind nie ganz auf der anderen Seite angekommen. Kraftlos lasse ich meinen Kopf auf den Fliesen ruhen. Hier sind sie ganz kalt.
Als ich die Augen schließe, um mich kurz auszuruhen, sehe ich die fremden Beine links neben mir liegen. Sie kommen mir seltsam bekannt vor.