Gabriel blickte fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot. Er wusste nicht, wann es begonnen hatte, dass die Menschen böse wurden. Wobei, wahrscheinlich waren die Menschen von Anfang an schon böse gewesen und er hatte nur vor dem offensichtlich die Augen verschlossen. An einigen Tag verfluchte er seine Herrin dafür, dass sie den Menschen die Freiheit gegeben hatte. Aber was wäre die Schöpfung ohne wert. Gabriel verstand die Menschen nie, wenn sie darum baten, dass sich etwas ändere oder ein geliebter Mensch gerettet werden solle. Denn wenn Gott den Menschen keine Freiheit über ihre eigenen Handlungen und Entscheidungen gegeben hätte, was wäre sie dann für ein Gott? Dennoch bekam Gabriel langsam Zweifel, als er erneut an die zerstörte Stadt denken musste. Im allgemeinen war ihm das Schicksal von Menschen egal. Aber dennoch konnte er vor ihrer Dummheit nicht die Augen verschließen.
Seufzend wandte er sich an Raphael und deutete auf die in Trümmern liegende Stadt. Obwohl die beiden viel zu weit entfernt waren, hätte Gabriel schwören können, dass er die Schreie der Menschen hören konnte. Raphael blickte von seinen Haaren, die er hingebungsvoll mit der Hand flocht, auf und blickte auf die Welt hinab.
"Meinst du nicht, es wird Zeit für den Armageddon?", fragte Gabriel und zog die Beine an.
Raphael lachte leicht auf und begann nun seine Fingernägel zu betrachten, während er sprach.
"Wenn du Gott fragst, bitte gerne. Als ich sie beim zweiten Weltkrieg gefragt habe, wurde ich zwei ganze Jahre auf die Erde verbannt. Den Stress tue ich mir nicht mehr an. Aber wenn du mich fragst, hätte das Armageddon schon vor tausend Jahren eintreten sollen. Aber ich bin ja nicht Gott."
Gabriel wischte einmal nach links und ein neues Bild erschien. Ein friedlicher Wald, ein idyllischer Fluss und eine kleine Holzhütte.
"Vielleicht hat sie recht und es ist tatsächlich zu früh. Die Menschen haben eine Chance verdient."
Raphael sprang auf und ließ sich neben Gabriel nieder.
"Du hast aber auch ein Händchen dafür, genau den Ort auszusuchen, wo momentan nichts schlimmes passiert."
Raphael wischte ein weiteres Mal nach links und eine dunkle Gasse erschien. Eine Frau rannte und obwohl Gabriel und Raphael nichts hören konnten, wussten sie, dass die Frau schrie. Im nächsten Moment wurde sie gefasst und von einer dunklen Gestalt in die Ecke gedrängt. Schnell wischte Gabriel ein weiteres Mal nach links.
"Nur weil du nicht hinsiehst, verschwindet es nicht einfach, das weißt du, oder?", wies Raphael Gabriel spöttisch zurecht, der jedoch stur weiter nach vorne blickte. Die Landschaft veränderte sich. Eine Fabrik, Frauen dicht an dicht gedrängt. Etwas bewegte sich und ein Balken krachte hinunter. Diesmal fasste Raphael nach Gabriels Hand und ließ ihn zusehen, bis es vorbei war. Erst als Panik ausbrach und die Überlebenden fluchtartig das Gebäude verließen, ohne sich um die Sterbenden zu kümmern, ließ Raphael Gabriels Hand los.
"Warum tust du das immer?", fragte Gabriel.
Raphael legte nachdenklich den Kopf schief.
"Warum ich nur das Negative sehe? Weil es nur negatives gibt."
Gabriel schüttelte verhemmt den Kopf. Sie führten nicht zum ersten Mal diese Diskussion.
"Das stimmt nicht und das weißt du. Die Menschen schaffen ebenso viel positives. Du ignorierst es nur."
Provozierend deutete Gabriel auf das Bild, welches nun vor ihnen erschien. Eine Familie hielt ein kleines Kind auf dem Arm. Ihren Gesten nach sangen sie dem Kind etwas vor.
"Ich ignoriere das Gute nicht. Ich weigere mich, seine Existenz anzuerkennen. Weißt du, warum es den Eltern dieses Kindes gut geht? Weil sie das Leid der anderen akzeptieren."
Gabriel blickte langsam zu Raphael.
"Ist das denn verwerflich?"
Raphael sah Gabriel misstrauisch an.
"Du bist derjenige, der Gott überzeugen wollte, Menschen nicht zu vergeben, obwohl sie nur befehlen gefolgt sind. Folter ist Folter, hast du gesagt. Dabei hat sie gar nicht das Recht, zu vergeben."
Gabriel stand auf und lief unruhig auf und ab.
"Das ist etwas anderes und das weißt du."
Raphael wischte nach links. Eine Gruppe umzingelte zwei Personen. Er wusste, dass Gabriel wusste, was folgen würde. Schließlich tat es das immer. Also deutete er auf die Personen herum. Niemand hielt an.
"Ist es das?", fragte er.
Gabriel wischte ein weiteres Mal provozierend nach links, als würde das Problem mit dem Bild verschwinden. Eine Moschee erschien. Beruhigt beließ er das Bild, wie es war.
"Also gibst du den Menschen die Schuld am Leid anderer?"
Ruhig betrachtete Raphael die Menschen beim Beten.
"Schuld ist ein hässliches Wort. Aber ja. Wenn du mich fragst, ist es egal, ob man jemanden ermordet oder den Mord zulässt. Die Folgen sind die Gleichen."
Gabriel zog die Schultern hoch und setzte sich wieder zu Raphael.
"Dann sind wir nicht besser als sie", flüsterte er.
Nachdenklich legte Raphael den Kopf schief.
"Das waren wir nie."
Ein letztes Mal wischte Raphael zur Seite. Ein kleiner Junge erschien, einen Strick um den Hals. Seine nächsten Worte sprach er härter als beabsichtigt aus.
"Ich hätte den Menschen auch keine Freiheit gegeben. Dann hätten wir die ganzen Probleme nicht."
Gabriel machte eine Handbewegung und alles wurde schwarz um die Beiden herum.
"Aber was ist Moral ohne Freiheit wert?"