Warnungen sind unter der Geschichte zu finden.
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Ein Mädchen joggte durch den Regen. Ihre Füße waren kalt und sie hatte das Gefühl, dass sie am Boden fest frieren. Am besten wäre es wohl gewesen, wenn sie gar nicht erst losgelaufen wäre. Aber dazu war es jetzt ohnehin zu spät. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung war. Erschrocken fuhr sie herum. Hinter den Bäumen verlief die Straße. Dort nahm das Mädchen nun eine dunkel Gestalt wahr. Eigentlich sollte sie wohl eher das Weite suchen, aber etwas zog sie zu dieser dunkel gekleideten Person hin. Vielleicht war es das Flackern eines kleinen Lichtes zu den Füßen der Person. Also trat das Mädchen durch die Bäume hinaus zu der Person hinaus. Sie erkannte auf den ersten Blick, woher das Flackern kam. Eine rote dicke Kerze stand dort eingerahmt auf dem Boden. Direkt daneben ein Kreuz und ein Engel, dessen Aufschrift das Mädchen bei dem Regen unmöglich entziffern konnte. Eine Gedenkstätte an dieser viel befahrenen Straße. Ihr Blick legte sich auf die Person, die das Mädchen noch immer nicht bemerkt zu haben schien. Dem Mädchen viel sofort auf, wie dünn der Junge war. Seine schwarze Kleidung wurde durch den Regen dicht an seine Haut gedrückt und trotz eines Sweatshirts meinte das Mädchen die Rippen des Jungen zu erkennen. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Es kam ihr töricht vor, den Jungen anzusprechen, wo er doch so offensichtlich trauerte. Also stellte sie sich nur neben ihn und faltete ihre Hände wie zum Gebet. Sie war nicht gläubig. Mit dem Prinzip von Glauben konnte das Mädchen noch nie etwas anfangen, aber es schien ihr wie eine Geste des Respekts, jetzt wenigstens die Hände zu verschränken. Im kalten Wind flackerte die Kerze unruhig und das Mädchen fürchtete, dass die Kerze jeden Augenblick erlöschen könnte.
Nach einiger Zeit wandte der Junge dem Mädchen seinen Kopf zu. Anscheinend hatte der Junge das Mädchen doch schon frühzeitig bemerkt, es aber nicht für nötig gehalten auf sie zu reagieren.
"Was tust du hier?", fragte der Junge und machte dabei den Anschein, als wollte er nicht, dass er gestört werde. Ein Auto fuhr hinter ihnen vorbei und die Haare des Mädchens wurden kurz nach vorne geweht.
Das Mädchen ging nicht auf die Frage des Jungen ein. Stattdessen stellte es eine Gegenfrage.
"Wer war er?", fragte das Mädchen und deutete wage auf das Kreuz.
Der Junge verzog seine Mundwinkel zu einem leichten lächeln und hockte sich neben das Kreuz. Um seine Antwort nicht zu verpassen tat das Mädchen es ihm nach. Der Regen wandelte sich immer mehr zu kleinen Eiskristallen, die scharf in ihre Haut schnitten.
"Siehst du das?", fragte der Junge und deutete auf eine Kette, die queer über dem Kreuz hing und die das Mädchen erst jetzt bemerkte.
Langsam nickte es.
"Diese Kette trug er Zeit seines Lebens jeden Tag um den Hals. Ein bisschen so, als könne sie ihm vor der Welt beschützen. Aber das konnte sie nicht."
Das Mädchen schluckte. Obwohl sie den Jungen, der hier sein Leben verloren hatte, nicht kannte, legte sich eine drückende Schwere auf ihr Gemüt. Das Mädchen wollte etwas tröstendes sagen, aber ihr wollten keine passenden Worte einfallen. Vielleicht einfach, weil es keine passenden Worte gab.
Also schwiegen sie einige Zeit und ließen die Autos in einvernehmlichen Schweigen dicht hinter sich, mit viel zu hoher Geschwindigkeit, vorbeirauschen. Schließlich war es doch das Mädchen, dass wieder die Stimme erhob.
"Vermisst du ihn?"
Der Junge legte den Kopf schief, als müsse er über diese Frage nachdenklich. Schließlich nickte er leicht und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Eine groteske Geste.
"Viele vermissen Menschen, wenn sie erst einmal gegangen sind. Aber die meisten haben kein Recht dazu."
Das ließ das Mädchen stutzen. Ihre Hand zuckte zu dem Kreuz, aber sie zog sie rechtzeitig wieder zurück. Ihre Beine begannen zu schmerzen und als hätte der Junge das gemerkt, erhob er sich wieder. Das Mädchen folgte seinem Beispiel.
"Wie meinst du das?"
Ihre Stimme klang dünner als beabsichtigt. Aber vielleicht ging sie im zunehmenden Eisregen auch einfach nur unter.
"Das es einen Unterschied zwischen Menschen gibt, die gehen gelassen werden und die gehen wollen."
Das Mädchen brauchte eine Weile um zu verstehen, was der Junge damit sagen wollte.
"Macht ein Selbstmord einen Menschen weniger tot?"
Die Frage kam ganz intuitiv über die Lippen des Mädchens und der Junge blickte sie überrascht an. Schließlich schüttelte er den Kopf.
"Nein. Tote bleiben tot. Unabhängig davon, wie es geschehen ist. Die einzigen Auswirkungen hat es auf die Lebenden."
Das Mädchen besann sich auf die vorherigen Worte des Jungen.
"Weil sie kein Recht haben, zu vermissen?"
Der Junge sah sie schmerzvoll an. Dann verhärteten sich seine Gesichtszüge.
"Weil sie Mörder sind."
Diese Worte trafen das Mädchen unerwartet und sie zuckte zusammen. Eigentlich wäre spätestens jetzt der Zeitpunkt, dass sie gehen sollte. Aber sie brachte es nicht übers Herz. Also blieb sie.
"Also sind Selbstmord und Mord gleich?"
Nachdenklich sah sie der Junge an, als müsste er abwägen, was er als nächstes sagen wollte.
"Selbstmord ist schlimmer. Denn es macht mehr als einen Menschen zu Mördern."
Das Mädchen begann zu zittern. Sie war sich nicht sicher, ob es ausschließlich von der Kälte kam.
"Aber sie leiden am Ende am meisten."
Der Junge sah sie etwas abschätzig an, aber seine Gesichtszüge wurden weich, als sein Blick wieder auf das Kreuz fiel. Und die Kerze, die inzwischen bedrohlich herabgebrannt war.
"Vielleicht. Aber das ist der Preis."
"Der Preis wofür?"
"Das Leben."
Der Junge drehte sich nocheinmal zu dem Mädchen um. In seinen Augen standen Tränen. Aufeinmal wollte das Mädchen unbedingt wissen, in welchem Verhältnis der Junge zu dem Toten stand. Vielleicht um alles besser zu verstehen. Vielleicht aber auch nur aus purem Egoismus.
Der Lärm der Autos hinter ihnen wurde ohrenbetäubend. Das Mädchen besaß keine Verbindung zum Tod. Warscheinlich kam ihr das Gespräch mit dem Jungen deshalb so abstakt vor.
"Wessen Gedenkstätte ist das?", fragte sie und blickte auf den Engel hinab, der das Blitzeis, welches sich auf der Straße gebildet hatte, wunderschön spiegelte.
Der Junge wartete mit seiner Antwort, bis das Mädchen ihn wieder direkt ansah. Jetzt liefen die Tränen ungehindert über seine Wange.
Er stand viel zu nah an der Straße.
"Meine."
Mit diesen Worten trat der Junge einen großen Schritt nach hinten. Das Mädchen hörte ein Auto hupen. Scheinwerfer spiegelten sich Pfützen. Ein grässliches Krachen ertönte. Die Kerze erlosch.
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TW: Selbstmord