Lenni liebte es, am Morgen mit seinem Hund spazieren zu gehen. Er mochte es, wenn noch ein leichter Raureif über den Gräsern lag und die Luft erfrischend kalt seine Lunge flutete. Sein Hund verstand meist weniger, warum sie so früh am Morgen das Haus verlassen mussten. Lennis Golden Retriever schaute eher missmutig und versuchte regelmäßig an der Tür einfach stehen zu bleiben. An einigen Tagen starrten sich Lenni und sein Hund Barney herausfordernd an, bis schließlich der Halter gewann. Heute morgen war alles etwas anders. Für Lenni erschloss es sich nicht, dass sein Hund auf einmal motiviert an der Leine zog. Normalerweise verhielt sich Barney eher gemütlich und hielt nicht viel vom rennen, toben oder generell allem was Spaß machte. Lenni wusste nicht genau, ob es an dem zunehmenden Alter des Hundes lag, oder daran, das Lizzi in seinem Leben fehlte. Als Lenni und Lizzi noch jung waren, bekamen die Zwillinge von ihren Eltern einen kleinen Welpen geschenkt. Gut, so jung waren sie zu diesem Zeitpunkt nicht, aber aus heutiger Perspektive war so unglaublich viel Zeit vergangen, seit ihrem sechzehnten Geburtstag. Lizzi hatte Barney unbedingt Keks nennen wollen, aber Lenni wollte schon damals nicht einsehen, im Wald ständig nach Keksen rufen zu müssen. Hätte warscheinlich auch seinen Reiz, aber das wollte seinerzeit einfach nicht in Lennis Kopf eingesehen werden. Allerdings war Lizzi von Lennis Vorschlag den süßen Welpen Brutos zu nennen, ebensowenig begeistert, wie ihr Zwilling von ihrem Vorschlag. Also hatten sie sich letztendlich auf Barney als Kompromiss geeinigt. Vielleicht hing die schnelle Übereinkunft auch ein wenig mit der Tatsache zusammen, dass ihre Eltern gedroht hatten, den Welpen einfach wieder zurückzugeben.
Lenni musste bei dem Gedanken an jene Tage lächeln. Sie waren so unbeschwert gewesen. Aber mit der Zeit waren die Entscheidungen gekommen. Nach dem Abitur beschloss Lenni, dass er studieren wollte. Eigentlich ging Lenni davon aus, dass seine Zwillingsschwester ebenfalls studieren wollte. Aber eines Abends hatte sie verkündet, dass sie sich für die Bundeswehr beworben und angenommen worden war. Lenni wollte es ihr ausreden. Nicht, weil er nicht daran glaubte, das Lizzi dafür geeignet war. Sondern weil er wusste, dass sie dafür geeignet war. Aber was wäre er für ein Bruder, wenn er nicht mit seiner Schwester im guten auseinander gegangen wäre. Also versprach er ihr, auf Barney aufzupassen und winkte ihr am Abschied zum Flughafen, als ihr erster Auslandseinsatz anstand. Man sollte meinen, dass ein Land, dass sich nicht im Krieg befand, nur wenige Soldaten ins Ausland schicken würde. Vielleicht war das auch so, aber Lizzi besaß schon immer ein Talent für so etwas.
In der ersten Zeit telefonieren sie häufig. Dann wurde es weniger. Schließlich hörte Lenni gar nichts mehr von seiner Schwester. Er wusste nicht, was passiert war und ob etwas passiert war. Es gab keine offiziellen Informationen und er wollte nicht nachfragen.
Barney zog stark an der Leine und zwang Lenni so, sich wieder der Realität zu stellen. Grade als sie zusammen die Grundstückseinfahrt erreichten, riss sich Barney schließlich los. Eine Person bog um die Ecke. Der Gang seltsam vertraut, nur gerader, selbstbewusster. Die Haare noch immer an den Seiten kurz und oben lang.
Lennis Hund sprang an der Frau hoch und leckte ihr einmal quer über das Gesicht. Der Blick der Frau traf den von Lenni. Leicht verunsichert hob sie ihre Hand und winkte ihm zu. Langsam trat Lenni einen Schritt vor. Er wusste nicht, ob das, was er sah, der Wirklichkeit entsprach. Erst als die beiden Zwillinge die Distanz zwischen sich überwunden hatten, konnte Lenni es glauben. Tief vergrub er seine Nase in Lizzis Haar und schloss sie fest in die Arme. Ihr Geruch war noch immer der gleiche. Vielleicht wollte Barney deshalb heute morgen so früh raus. Ganz sicher sogar. Prompt sprang der golden Retriever an den Geschwistern hoch und brachte sie so aus dem Gleichgewicht, dass sie nebeneinander auf dem Boden landeten. Barney wusste wohl nicht wen von beiden er zuerst ablecken sollte, entschied sich aber letztendlich für Lizzi.
In diesem Moment wurde Lenni klar, dass es einen Begriff für das gab, was er empfand. Heimat. Sein Zuhause war endlich zu ihm zurück gekehrt.