Daniel hatte bereits seit Tagen ein ganz schlechtes Gefühl. Vor drei Wochen erzählte sein Freund Jos ihm, dass er wegen Corona ins Home-Office verlegt wurde. So weit verständlich, es kam schließlich nicht das erste Mal vor. Aber in den letzten Wochen verließ Jos immer zu unmöglichen Zeiten das Haus. Manchmal kam er nach kaum einer Stunde zurück, an anderen Tagen blieb er fast den ganzen Tag weg. Daniel wusste, wann sein Freund arbeitete. Er begann seit Jahren pünktlich um zehn Uhr. Deshalb wurde Daniel auch zunehmend misstrauischer, als er zum wiederholten Male sagte, dass er um acht ein Präsenzmeetig habe. Daniel wusste nicht, was er tun sollten. Eigentlich besaß Vertrauen in ihrer Beziehung einen enorm hohen Stellenwert. Sie erzählten sich immer alles. Daniel wollte seinem Freund vertrauen. Aber er kam nicht um die Vorstellung herum, dass er sich mit anderen Männern traf. Wenn er nach einem langen Meeting zurückkehrte, roch er nicht so, wie er sonst immer roch, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Eigentlich sollte Daniel Jos einfach fragen. Aber er hatte so schreckliche Angst, dass er recht haben könnte. Noch mehr Angst machte ihm allerdings die Vorstellung, dass Daniel ihn belügen könnte. Einen andern Mann wurde ihre Beziehung vielleicht mit viel Zeit und Zuneigung überleben. Dazu war Daniels Liebe viel zu groß. Einen Vertrauensbruch könnte Daniel nicht verkraften. Aber es waren nicht nur die plötzliche Abwesenheit zu unmöglichen Zeiten. Was Daniel wirklich Angst machte, waren die ständigen Corona-Tests, die Jos machte. Hier traute sich Daniel nachzufragen. Jos meinte, dass er ihn nur schützen wolle. Aber Jos könnte sich nur mit Corona anstecken, wenn er sich mit andern Menschen treffen würde. Daniel wollte seinem Freund nicht misstrauen. Aber er hatte Angst. Jos stand früher auf als sonst. Verbrachte ihre freien Tage nicht länger im gemeinsamen Bett um zu kuscheln.
Also beschloss Daniel, Jos zu folgen. An diesem Morgen wollte er wieder zu einem Meeting. Normalerweise trug Jos keinen Anzug, wenn er zur Arbeit ging. Sie verabschiedeten sich wie jeden Morgen. Aber an diesem Tag fuhr Daniel Jos nach. Er wusste, dass es nicht richtig war, was er tat. Er sollte mit Jos reden. Aber er brauchte die Gewissheit. Schnell merkte Daniel, dass Jos nicht wie üblich auf die Bundesstraße fuhr. Sein schlechtes Gefühl verstärkte sich. Daniel wusste nicht, was er machen würde, wenn sich seine Befürchtung tatsächlich bewahrheitete. Sein Herz schlug viel zu schnell. Jos parkte an einem Park. Aus der Ferne beobachtete Daniel, wie sein Freund sich eine Krawatte umband. Er trug nie Krawatten. Nicht einmal bei ihrem ersten Date hatte er eine getragen. Daniels Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Er folgte seinem Freund bis sich dieser auf eine Bank setzte und offensichtlich wartete. Es war kurz vor neun. In sicherer Entfernung lehnte sich Daniel an einen Baum. Er wollte nie so ein Mensch sein, der seinem Freund nach spioniert. Aber er wollte auch keiner dieser Menschen sein, die jahrelang eine Beziehung führten, obwohl sie wussten, dass sie betrogen wurden.
Um neun Uhr trat jemand an die Bank heran. Es war ein Mann. Er trug ebenfalls einen Anzug. Er war bestimmt einige Jahre älter als sie beide, aber das beruhigte Daniel nicht. Auch sein Gesicht wirkte nicht außergewöhnlich. Aber vielleicht hatte er ja andere Qualitäten. Daniel ballte seine Hand zu einer Faust. Eigentlich war er kein eifersüchtiger Mensch. Aber bisher hatte er auch keine Veranlassung dazu. Letztendlich resultierte seine Wut auch nur aus einer tiefen Angst.
Jos und der fremde Mann unterhielten sich einige Minuten, bevor sie - zu Daniels Befriedigung mit Mindestabstand - durch den Park spazierten. Nach einer Umrundung um den See verabschiedeten sie sich voneinander. Erst als der fremde Mann ging, fiel eine tiefe Anspannung von Daniel ab. Er atmete tief durch. Es wurde Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Erst jetzt wurde Daniel bewusst, wie sehr ihn die letzten Wochen mitgenommen hatten. Noch einen weiteren Tag in diesem Zustand würde er nicht aushalten.
Also lief er auf seinen Freund zu, der leicht verloren an einer Bank stand und leicht lächelnd auf etwas in seiner Hand schaute. Daniel konnte sich nicht erinnern, dass der Mann seinem Freund etwas gegeben hatte.
Jos bemerkte Daniel erst, als er nur noch wenige Meter von diesem entfernt war. Als Jos seinen Freund erkannte wurden seine Augen tellergroß und er blickte sich in die Richtung um, in die der fremde Mann verschwunden war. Dieser war schon längst hinter der nächsten Abzweigung verschwunden. Schnell ließ Jos den Zettel in seiner Hand in seiner Jackentasche verschwinden, aber nicht schnell genug, als dass Daniel es nicht bemerkte. Daniel presste unterdessen seine Lippen zu einem Strich zusammen. Er wollte seinem Freund keine Vorwürfe machen, aber es fiel ihm zunehmend schwer, über das offensichtliche hinwegzusehen. Dennoch deutete er beherrscht auf die Bank und ließ sich an einem Ende der Bank nieder. Jos kam seiner Aufforderung nach. Daniel konnte nicht sagen, wann der Mindestabstand auch bei ihnen an Bedeutung gewonnen hatte.
"Du sagtest, du müsstest zur Arbeit", begann Daniel das Gespräch und beobachte seinen Freund dabei aufmerksam. Dieser rieb seine Hände ineinander und wandte den Blick ab.
"Jos, bitte."
Daniel wollte nicht so verzweifelt klingen, aber es gelang ihm einfach nicht, seine Emotionen aus seiner Stimme herauszuhalten.
Jos wandte sein Gesicht nun doch Daniel zu und Schuld stand in seinem Blick. Daniels Herz zog sich erneut schmerzhaft zusammen und diesmal hatte er wirklich Angst, dass der Schmerz nicht mehr vergehen würde. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass sich in Jos Augen ein nicht minderer Schmerz wiederspiegelte.
"Es tut mir leid Daniel", begann Jos und seine Stimmen klang gebrochen. "Ich hätte es dir direkt sagen sollen. Aber ich konnte einfach nicht."
Daniel schluckte. Er wollte etwas sagen, aber er sah, dass Jos noch weiter sprechen wollte. Einige Sekunden zog sich die Stille wie Kaugummi hin.
"Vielleicht konnte ich selbst noch nicht damit umgehen."
Jos lächelte schwach.
"Aber er will mich wiedersehen."
Eigentlich hätte Daniel jetzt wütend werden müssen. Aber das einzige, was er empfinden könnte, war eine unglaubliche Trauer und eine tiefe Leere, die sich unter ihm auftat. Tränen schossen ihm in die Augen und obwohl sie gemeinsam schon so oft geweint hatten, wollte Daniel in diesem Moment nicht, dass Jos seine Tränen sah. Aber natürlich war Jos zu aufmerksam, als dass er Daniels Tränen einfach übersehen konnte. Er streckte eine Hand nach Daniel aus, aber dieser wich aus. Also zog Jos seine Hand zurück. Er wirkte niedergeschlagen.
"Ich weiß, ich hätte dich nicht anlügen dürfen. Aber als ich wegen der drohenden Insolvenz gekündigt wurde, hat es mir einfach den Boden unter den Füßen weggerissen."
Jos stockte und verschränkte seine Hände ineinander. Eine unglaubliche Welle der Erleichterung brach über Daniel herein. Er blinzelte die Tränen weg, aber einige einzelne Tränen lösten sich trotzdem voller Protest und fielen geräuschlos auf die Bank. Jetzt war Daniel derjenige, der den Mindestabstand überbrückte und Jos Hände mit seinen eigenen umgriff. Kurz sah Daniel seinem überraschten Freund in dessen tief braune Augen, bevor er seine Lippen sanft auf Jos senkte und sie so zu einem kurzen liebevollen Kuss verband.
Überrascht sah Jos ihn an, als sich Daniel wieder von ihm löste.
"Wofür war der denn?"
Daniel lächelte selig.
"Weil ich dich liebe."
Die Distanz hatten sie überwunden. Aber dennoch war längst noch nicht alles geklärt.
"Ich dachte, du betrügt mich", brach Daniel schließlich die Stille.
Jos hielt damit inne, Daniel über den Nacken zu streichen. Noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Daniel fort.
"Ich wusste nicht, was ich tun soll. Ständig die Tests und das kurzfristige weggehen. Ich wollte es nicht glauben, aber ich hatte so schreckliche Angst."
Jos griff nach Daniels freier Hand und drückte sie fest.
"Ich würde dich niemals betrügen. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Und weißt du was? Ich will es auch gar nicht!"
Daniel musste erneut schlucken, um die aufkommenden Tränen zu vertreiben.
"Du weißt gar nicht, wie sehr ich diese Worte gerade brauche."
Daniels Stimme klang heißer. Erst bei seinen nächsten Worten erholte sich seine Stimme.
"Aber warum hast du es mir nicht einfach gesagt? Wir hätten das gemeinsam geschafft."
Und wandte Jos doch den Blick ab und fixierte den ruhigen See.
"Als du damals zu mir gezogen bist, habe ich dir so lange eingeredet, dass du einen Job brauchst. Ich wollte nicht, dass du nur bei mir bleibst, weil du abhängig von mir bist. Diese Angst wollte ich dir ersparen."
Ungläubig blickte Daniel seinen Freund an.
"Du hast mich vier Jahre versorgt und bei dir wohnen lassen, als ich drohte auf der Straße zu landen."
Jos blickte ihn vielsagend an.
"Genau. Und ich will nicht, dass du denkst, du würdest mir etwas schulden!"
Nun musste Daniel schmunzeln.
"Ich schulde dir tatsächlich mehr, als ich je zurückgeben kann. Aber nicht, weil du dich bei dir aufgenommen hast, sondern wegen all der Liebe, die du mir in den vielen Jahren geschenkt hast."
Jos verdrehte nur die Augen.
"Idiot!"
Daniel drückte Jos einen schnellen Kuss auf die Lippen und zog sich fast augenblicklich wieder zurück.
"Dein Idiot!"
Jos stand auf und griff nach Daniels Hand, der sie nur zu gerne ergriff.
"Wollen wir nach Hause gehen?"
"Immer."