Ich weiß nicht, wie es genau dazu kam, das ich in dieser Situation gelandet bin. Warscheinlich hätte ich doch die Abkürzung durch die dunklen Seitengassen so früh am Morgen vermeiden sollen, nur damit ich rechtzeitig zur Physiotherapie komme. So wie es momentan für mich aussieht, würde meine Pysiotherapeutin heute einiges mehr zu behandeln haben, als nur meine verspannten Schultern. Wenn es schlecht laufen sollte, könnte ich warscheinlich gar nicht mehr zur Physio gehen. Und dass alles nur, weil ich unbedingt ein paar Minuten länger schlafen wollte.
Eine große grobe Hand gräbt sich tief in meine Schulter und ich höre schon wieder meine Hausärztin fragen, ob ich unter häuslicher Gewalt zu leiden habe, nur weil ich wieder einmal mit blauen Flecken und Schürfwunden bei ihr auftauche. Der zugehörige Körper ist mindestens genauso kräftig und dadurch, dass ich an die Wand gespresst werde, fühle ich mich seltsam hilflos. Hinter dem großen Kerl stehen zwei weitere, zwar deutlich kleinere, aber mindestens ebenso kräftige Kerle. Mein Herzschlag beschleunigt sich erneut, als die zweite Hand des Mannes mich grob dazu zwingt, ihn anzublicken.
In diesem Moment verstehe ich wohl, wie mein Hund sich fühlt, wenn er wieder von seinen Artgenossen verbellt wird und sich schutzsuchend hinter mir versteckt. In diesem Moment hätte ich auch gerne jemanden, hinter dem ich mich verstecken könnte.
"Hör zu", die Stimme des Mannes ist tief und alles in allem wirkt er sogar intelligent, was meine Angst nicht grade geringer werden lässt.
"Wenn du erzählst, was du gestern Abend gesehen hast, dann setzt es was! Und komm bloß nicht auf die Idee, deinen Worten Taten folgen zu lassen."
Verwirrt sehe ich den Mann an. Das einzige, was ich gestern Abend gesehen habe, war einer dieser Talkshows im Ersten, wo ich sogar um kurz vor neuen eingeschlafen bin, weil es so langweilig war.
Dennoch nicke ich. Es dürfte keine gute Idee sein, dem Mann zu widersprechen.
"Haben wir uns verstanden?", fragt er nochmal und ich zucke unter den Worten zusammen.
Aber bevor ich nicken kann, stößt ein weiterer Mann zu der Gruppe hinzu. Seine Haare sind weiß gefärbt, was auf mich unglaublich grotesk wirkt.
"Scheiße, was wird das hier?", fragt er und einerseits freue ich mich über die unerwartete Hilfe, aber andererseits möchte ich nicht verantwortlich sein, wenn noch jemandem etwas passiert.
"Wir haben doch gesagt, wir regeln das für dich", entgegnet einer der Männer, die hinter dem grobschlächtigen stehen.
Erst jetzt wird mir klar, dass der neu dazugekommende Mann zu den drei übrigen gehören muss. Prompt sacke ich noch tiefer zusammen und die grobe Hand an meiner Schulter ist warscheinlich das einzige, was verhindert, dass ich nicht an der Wand zu Boden rutsche.
"Als ihr von Regeln gesprochen habt, bin ich nicht davon ausgegangen, dass ihr ihn gleich zusammenschlagen wollt!"
Der Mann fährt sich durch seine weißen Haare und tritt an beiden Männern vorbei um mich neugierig anzusehen. Kurz kneift er die Augen zusammen, bevor er die Hände in die Luft wirft.
"Das ist er nicht!", konstantiert er und stößt daraufhin den kräftigen Mann gegen die Brust, der sofort zurückweicht, woraufhin ich wirklich an der Wand hinab rutsche und in einer Pfütze zum sitzen komme. Das mit der Physio wird heute wohl nichts mehr.
"Scheiße, dass ist nicht der Mann, der dich und Lenni gestern bedroht hat?", fragt der grobe Mann fassungslos nach und kratzt sich unsicher am Nacken.
Wäre ich nicht kurz davor, zu weinen, hätte ich warscheinlich jetzt lachen können.
Der Mann mit den weißen Haaren schüttelt den Kopf.
"Wir dachten, das sei ein Scherz von euch, ein morbider, zugegeben, aber doch nur ein Scherz."
Der Mann mit den weißen Harren kommt auf mich zu und intuitiv drücke ich mich näher an die Wand. Allerdings hält er mir nur seine Hand hin und hilft mir auf.
"Tut mir echt leid, Mann. Das wollte ich nicht. Diese Schwachköpfe hier tun manchmal Dinge ohne vorher nachzudenken. Können wir was für dich tun um das wieder gutzumachen?"
Perplex blicke ich zwischen den vier Männern hin und her. Ich bin mir nicht sicher, wo ich hier hineingeraten bin, aber ich bin unglaublich froh darüber, dass das schlimmste überstanden ist.
Also schüttele ich nur dem Kopf und wende mich zum gehen. Noch immer schreit alles in mir nach Flucht. Nun kommt auch der kräftige Mann zu mir und haut mir einmal kräftig auf die Schulter.
"Tut mir echt leid."
Vielleicht ist er doch nicht so intelligent, wie er wirkte.
Als ich gehe, kann ich es kaum fassen, dass sie mich tatsächlich gehen lassen. Obwohl ich so schnell wie möglich die Hauptstraße erreichen möchte, höre ich die Männer noch etwas sagen.
"Der hat gestern gedroht, euch umzubringen, was erwartest du, dass wir tatenlos dabei zusehen?"
Der Mann mit den weißen Haaren antwortet:
"Die waren betrunken, das haben die bestimmt nicht erst gemeint. Wir beide werden noch ein ernstes Wörtchen miteinander reden müssen!"
Ich schaudere und verschwinde außer Hörweite. Zum Glück ist das Auto nicht weit.