Langsam geht die alte Frau über den Friedhof. Seit der Schnee verschwunden ist, sieht alles so anders aus. Im Winter kann sich die alte Frau immer gut an Tage vor dem Kamin erinnern. Aber auch an Tage voller Hunger. Manche Erinnerungen erscheinen ihr, als sei es erst gestern gewesen. Andere sind so weit weg, als wären sie aus einem anderen Leben. Im Winter ist der Friedhof meist von einer dicken Schneeschicht bedeckt. An einigen Tagen ist diese so hoch, dass man die Daten auf den Grabsteinen kaum noch erkennen kann. Aber die alte Frau würde sich blind auf dem Friedhof zurecht finden. Sie hat diese Gänge bereits so oft beschritten, dass es ihr schwer fällt, sich an eine Zeit davor zu erinnern. Jetzt ist der Schnee geschmolzen und die Gräber sehen seltsam karg aus. Die Blumen sind noch nicht zurückgekehrt und die immergrünen Pflanzen erscheinen auch seltsam trostlos. Diese Zeit, zwischen dem Winter und dem Frühling ist für die alte Frau die schlimmste Zeit in Jahr. Sie hat schreckliche Angst, dass keine Blumen aus der Erde sprießen.
Ihre Schritte führen sie den gewohnte Pfad entlang. Bald steht sie vor dem Grab ihres geliebten Mannes. Sanft zündet sie die Kerzen wieder an, wie jeden Morgen. Als sie sich hinunter beugt, erkennt sie einige wenige Schneeglöckchen, die sich ganz zart durch den nächtlichen Bodenfrost kämpfen. In diesem Moment ist sie unglaublich erleichtert. Der Frühling erwacht. Die alte Frau ist sich sicher, dass ihr Mann ein weiteres Jahr auf sie warten wird.
Langsam wendet sie sich zu ihrem Lebensgefährten um, der in respektvollem Abstand hinter ihr stehen geblieben ist. Lächelnd wischt die alte Frau sich eine Träne aus dem Gesicht und greift nach der Hand ihres Lebensgefährten. Gemeinsam folgen sie den Wegen des Friedhofs zu einem weiteren Grab. Auch dort sprießen zarte Schneeglöckchen.