"Als ich klein war, sind meine Schwester und ich häufig gemeinsam im Wald spazieren gegangen. Wir liebten die Natur und die Geräusche der Tiere, die den Wald mit Leben füllten. Eines Tages hörten wir ein Winseln, ähnlich dem Laut, den ein gequälter Hund ausstößt. Ich wollte nicht, dass wir dort hingehen. Noch nie konnte ich den Anblick verletzter Tiere ertragen."
Die junge Frau lächelte leicht bei der Erinnerung an jenen Tag.
"Aber was wäre ich für eine Schwester, wenn ich sie einfach alleine in das Dickicht laufen lassen würde. Letztendlich war es kein Hund, der diese erbärmlichen Geräusche von sich gab, sondern ein Kaninchen. Seine Hinterläufe hatten sich in einer Drahtschlinge verfangen und das wilde Kaninchen versuchte so verzweifelt, sich davon zu befreien, dass es sich bald schon die Hinterläufe selbst ausgerissen hat. Ich wollte den Hasen so nicht sehen. Ich konnte den Anblick nicht ertragen. Also wandte ich mich ab. Aber meine Schwester ging fruchtlos zu dem Hasen hin. Als ich mich wieder umdrehte, waren die Geräusche verstummt. Der Kopf des Hasen war unnatürlich verdreht. Von diesem Tag an, hielt ich meine Schwester für ein Monster."
Eine einzelne Träne löste sich aus dem Auge der jungen Frau und tropfte geräuschlos zu Boden. Ihr Blick verfing sich mit dem ihres Schwagers. Er nickte ihr zu. Kurz schwieg sie, bevor sie die Kraft fand, fortzufahren.
"Erst Jahre später konnte ich die Kraft finden, ihr zu vergeben. Dennoch war es für lange Zeit das letzte Mal, dass wir gemeinsam in den Wald gingen. Die Jahre vergingen und schließlich bekam unser Kater Krebs. Erst beim Tierarzt erkannte ich, dass meine Schwester kein Monster war. Die Gnade eines schnellen Todes, war das einzige, was sie geben konnte.
Es gibt einen zentralen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Die einen haben das Recht eines vorzeitigen Todes, aber nicht die Möglichkeit der freien Entscheidung dafür oder dagegen. Die anderen haben die Möglichkeit einer freien Entscheidung, aber nicht das Recht eines frühzeitigen Todes. Vielleicht würde meine Schwester ohne ihren Mann noch leben, aber wären wir nicht die Monster, wenn wir ihr einen selbstbestimmten Tod verwehrt hätten?"
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