Robin kommt mit vier Heißgetränken vom Glühweinstand zurück. Mir ist es ein Rätsel, wie er es schafft, dass alle vier Becher durch das dichte Gedränge zu balancieren, ohne, dass er etwas verschüttet. Normalerweise hätten wir uns jetzt an einen der Stehtische gestellt, aber Torben und Lilli sind einfach noch zu klein dafür, sodass wir uns entscheiden haben, uns auf eine der Bänke zu setzen. Das ist das postive daran, wenn man wegen den Kinder nicht Abends auf den Weihnachtsmarkt geht. Es ist bedeutend leerer. Während Lilli einen Kakao trinkt, hat sich Torben für einen Kinderpunsch entschieden. Mich hat es gewundert, dass er nicht schon alleine von dem Wort Kinder abgeschreckt wurde, aber durch seine Abneigung gegen Milch musste ich wohl damit rechnen. Mein Punsch dampft aus dem Becher und ich lasse ihn von einer Hand in die andere wandern, um mich nicht zu verbrennen. Ich beuge mich zu Torben vor.
"Was sagt man, wenn man etwas geschenkt bekommen hat?", fragte ich ihn leise, aber Robins Mine verrät, dass er mich durchaus hören konnte.
Pflichtschuldig sieht Torben zu Robin auf und bedankt sich. Lilli folgt abwesend seinem Beispiel, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie wirklich weiß, wofür sie sich bedankt.
"Bleibt ihr jetzt eigendlich hier in der Stadt?"
Robin blickt neugierig zwischen mir und meinen Kindern hin und her.
Tatsächlich habe ich mit Robin bisher noch nicht darüber gesprochen, obwohl wir uns bei unseren letzten Treffen so viel zu erzählen hatten.
Ich grinse schräg.
"Das ist der Plan."
Über Robins Lippen huscht ein Lächeln, aber es ist so schnell vergangen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nur eingebildet habe.
"Ich mag die Schule hier nicht", nörgelt Torben.
"Du mochtest die Schule Zuhause auch nicht", entgegne ich und bin nur kurz erstaunt darüber, dass ich noch immer von Zuhause spreche. Schließlich sind wir schon vor über einem Monat hier hin zurückgekehrt, aber fast zehn Jahre lassen sich wohl auch nicht einfach ausradieren. Aber ich weiß auch, dass es Torben schwer fällt, neue Freundschaften zu schließen, wo er sich doch seit Marias Tod so zurückgezogen hatte. Wenn ich nicht furchtbare Angst hätte, dass sich Lilli eines Tages nicht mehr an ihre Mutter erinnern könnte, würde ich mich mehr für sie freuen, dass es ihr so leicht fällt, Anschluss zu finden.
"Ich mochte Schule auch nie", flüstert Robin in Torbens Richtung, als würde er diesem ein großes Geheimnis anvertrauen. Ich muss fast lachen über diese dreiste Lüge. Wenn jemand von uns beiden Schule nicht mochte, dann war ich das. Robin war immer derjenige mit den guten Noten, den die Leher mochten, während ich zu faul zum lernen war. Warscheinlich hätten die Leher Robin weniger gemocht, wenn sie gewusst hätten, wie er in unser gemeinsamen Freizeit über sie hergezogen hatte.
Von dem Glühweinstand hört man leise Musik und in diesem Moment kann ich mir fast vorstellen, dass Robin und ich wieder zwanzig sind und zusammen halb betrunken und schiefe Weihnachtslieder grölend über den Weihnachtsmarkt taumeln. Ein Rentier hängt über dem Süßigkeiten Stand gegenüber und seine rote Nase soll ich wohl als Rudolf darstellen. Warscheinlich sollte ich nocheinmal hinüber gehen und Robin neue Mandeln kaufen, nachdem ich ihm alle weggegegessen habe.
Ich werde brutal in die Realität zurück gerissen, als Lilli zu sprechen beginnt. Dabei zeigt sie auf einen Engel, der zwei Stände weiter angebracht ist und Trompete spielt.
"Wenn Mama jetzt ein Engel ist, kann sie uns dann Weihnachten besuchen kommen?"
Ich schlucke und schließe einmal die Augen um mich zu sammeln.
Meine Tasse reiche ich Robin, der sie kommentarlos annimmt. Darauf hin ziehe ich Lilli sanft auf meinen Schoß und deute in Richtung Himmel, der trotz des vorangeschritten Nachmittags schon fast dunkel ist.
"Siehst du den Stern dort oben?"
Ich nehme ihre Hand und führe sie in die Luft, sodass sie zu einem hell leuchtenden Stern deutet. Lilli nickt leicht.
"Von dort schaut Mama auf uns alle hinab und beschützt uns."
Lilli schaut mich verständnislos an.
"Aber dann kann sie doch auch kommen und uns besuchen."
Ich schüttele sanft den Kopf.
"Aber dann muss sie ja all die anderen Menschen alleine lassen, die ebenso darauf angewiesen sind, dass sie über sie wacht. Denn wenn sie bei und ist, kann sie ja nicht auf Oma achten."
"Und Robin", fügt Lilli hinzu und ich blicke kurz liebevoll zu ihm hinüber, woraufhin er verlegen den Blick abwendet. Ich merke, dass er uns diesen Moment lassen möchte.
"Genau", bestätige ich Lilli. "Aber wenn du möchtest, dann kannst du ihr einen Brief schreiben und dann backen wir gemeinsam Plätzchen und legen ihn unter den Baum, damit er Mama erreicht, in Ordnung?"
Meine Stimme bricht zum Ende hin ich ich kann nicht gänzlich verhindern, dass meine Augen glasig werden. Einerseits kommt es mir vor, als sei ihr Tod unglaublich lange her. Aber andererseits sitzt der Schmerz so tief, als sei sie erst gestern gegangen.
Eine kurze Stille kehrt ein und ich merke, dass Torben meine freie Hand ergriffen hat. Es wirkt, als würden wir uns in einer Blase befinden. Um uns herum das Getümmel auf dem Weihnachtsmarkt und die Weihnachtsmusik, die uns wie Wellen umspült, während in uns alles ruhig ist. Kurz behalte ich noch die Stille bei, bevor ich Lilli schwingvoll wieder auf dem Boden abstelle.
"Wolltest du nicht nochmal Karussell fahren?"
Lilli beginnt aufgeregt zu nicken. Nachdem Robin drei der Tassen zurückgegeben hat, allem Anschein nach sammelt er immer noch jedes Jahr eine Tasse vom Weihnachtsmarkt, machen wir uns auf den Weg.
Zuerst bleibt Torben eng bei mir, aber bald wird er von den vielen Eindrücken berauscht und kann für einige Zeit die Trauer verdrängen.
Robin geht neben mir. Ab und zu berühren sich unsere Hände flüchtig, aber nie so oft, dass es Absicht sein könnte.
"Du kannst unglaublich gut mit Kindern umgehen."
Ich zucke mit den Schultern. Weder Berufserfahrung, noch das Wissen kann einen auf den Umgang mit dem Tod vorbereiten und noch weniger darauf, selbst für seine Kinder stark zu sein.
"Ich hatte ja auch Zeit zu üben", entegene ich schließlich.
Nach kurzer Zeit füge ich hinzu.
"Du würdest ebensogut mit Kindern umgehen können, wenn du welche hättest."
Im nächsten Moment wird mir der Vorwurf bewusst, der in dieser Aussage mitschwingt und nie beabsichtigt war. Robin zuckt nicht zurück, aber ich weiß trotzdem, dass ihn meine Worte getroffen haben. Schnell versuche ich, ein anderes Thema aufzugreifen.
"Du sammelst noch immer Tassen vom Weihnachtsmarkt?"
Bei meiner Frage entspannt sich Robin wieder. Seine Hand streift erneut meine und ein Schauer läuft mir über den Rücken.
"Es ist die fünfte Tasse."
Ich schlucke. Vier Jahre Beziehung, für jedes Weihnachten eine Tasse.
"Es hat für mich keinen Sinn gemacht, ohne dich weiter zu sammeln."
Mein Hals wird trocken. Ich weiß nicht, was ich erwiedern soll. Also greife ich einfach nach seiner Hand und drücke sie liebevoll. Warscheinlich ist diese kurze Nähe, das einzige, was wir zu geben bereit sind.