Ich fuhr mir müde mit den Handballen über die Augen. Seit über drei Stunden saßen ich und meine Lernpartnerin bereits an dem Übungsblatt für Chemie. Wer könnte denn auch wissen, dass Physik so elementar war, wenn man Chemie studierte. Vor allem wenn es nur auf Lehramt war. Die Sonne fiel durch das Fenster und tauchte das halbe Arbeitsblatt in den Schatten. Meine Lernpartnerin Lea schien ähnlich viel Motivation zu besitzen wie ich.
"Wollen wir kurz rausgehen?", fragte ich sie und sie nickte zustimmend. Ihre langen braunen Haare wippten bei der Bewegung sanft auf und ab. Ich mochte Lea sehr gerne. Einmal hatte ich sie impliziert gefragt, ob sie mit mir ausgehen wollte, aber die Anspielung hatte sie entweder nicht verstanden oder abgelehnt. Jedenfalls war ich letztendlich mit meinen Freunden ins Kino gegangen. Normalerweise trafen Lea und ich uns zum lernen nur über Zoom mit zwei anderen aus unserer Lerngruppe. Aber seit die Coronabeschränkungen gelockert waren hatte sie mich gefragt, ob wir einmal so zusammen lernen wollten. Hätte ich sie nicht so gemocht, hätte ich verneint, alleine um meine Kontakte zu reduzieren. Aber so konnte ich nicht nein sagen.
Wir gingen nach draußen und machten eine kleine Runde durch den Wald. Lea redete viel und gerne, aber es machte mir nichts aus. Schließlich kamen wir an eine kleine Waldlichtung. In der Mitte trafen die Sonnenstrahlen auf eine reflektierende Oberfläche und Lea zog mich näher heran. Ihre Hand in meiner fühlte sich gut an. Vielleicht war es dumm von mir gewesen, ihr zu erzählen, dass ich kein Date für den Abiball hatte. Aber sie wirkte nicht wie die Art von Mädchen, denen wichtig war, mit welchen Menschen man verkehrte. Dazu waren ihre Augen manchmal zu dunkel und ihr Gesicht manchmal zu verschlossen, wenn ihre Worte untergingen.
An dem glänzenden Ding angekommen, wurde ich auf einmal durch die Sonne geblendet. Alles wurde weiß vor meinen Augen und meine Hand löste sich von Leas. Mit einem Mal war alles schwarz und ich war mir nicht sicher, ob ich das Bewusstsein verlor, oder mich einfach vollkommene Dunkelheit umgab.
Aufeinmal war alles wieder da. Die gesamte Umgebung.
Ich erschrak, als ich Menschen um mich herum wahrnahm. Sie waren seltsam gekleidet. Die Männer trugen komische Hosen und hochgeschossene Westen, während die Frauen Kleider trugen, aus denen ihre Brüste zu fallen schienen. Ich stand im Schatten eines kleinen Wäldchens und drehte mich erschrocken um, als ich Lea hinter mir erkannte. Sie schien nicht weniger verwirrt zu sein als ich. Ihr Körper steckte in einem jener unbequem anmutenden Kleidern und ihre Haare waren zu einer eleganten Frisur verdreht. Ich musste zugeben, dass ihr diese Art von Kleid stand. Dadurch, dass es von der Brust abwärts weit ausfiel, ließ es Lea schlanker wirken, als sie tatsächlich war. Dennoch mochte ich sie in Jeans und ihren Hoodies lieber.
"Was ist das hier?", fragte ich leicht hilflos und deutete zu dem Weg, auf dem grade eine Kutsche vorbei zog.
Auch Lea schaute sich erstaunt um.
Langsam bekam ich Panik. Es war viel zu detailgetreu, um in einer Sendung von "Verstehen Sie Spaß" gelandet zu sein.
"Ich weiß es nicht."
Lea klang verunsichert, obwohl ihre Augen einen seltsamen Glanz zu bekommen schienen.
"Ich glaube wir sind in einer anderen Zeit gelandet."
Nur weil ich Geschichte als zweites Fach studierte, brauchte sich Lea nicht über mich lustig zu machen. Ich wollte grade die Augen verdrehen, als ich merkte, dass sie das durchaus ernst meinte.
"Mach dich nicht lächerlich", versuchte ich ihre Worte abzutun, aber wurde zunehmend unsicher. Was war, wenn sie recht hatte?
Unsicher sah mich Lea an.
"Weißt du, wann wir hier sind?"
Ihre Formulierung ließ mich fast auflachen. Ich hatte mich im Studium für den ersten Weltkrieg als Fokus entschieden. Nicht für etwas aus dem Mittelalter, oder der Rennessence oder der Aufklärung. Was weiß ich, wo wir gelandet waren. Hilflos zucke ich mit den Schultern. Lea sieht mich fassungslos an.
"In Ordnung. Wir wissen weder, was passiert ist, noch wie wir in diese Zeit gekommen sind. Solange wir das nicht wissen, müssen wir vorsichtig sein."
Ich blicke sie verständnislos an. In erster Linie wollte ich gerne zurück.
"Bruder oder Ehemann."
Mein Unverständnis wuchs mich weiter, was sie anscheinend auch in meinen Augen erkannte.
"Ob du mein Bruder oder mein Ehemann sein möchtest. Egal in welcher Zeit wir sind, glaube ich nicht, dass Frauen viele Rechte hier haben. Also bin ich von einem Mann abhängig. Wenn du mein Bruder sein willst, wage es nicht, mich zu verheiraten!"
"Wir sehen uns nicht ähnlich."
Tatsächlich waren meine Haare schwarz und lockig, während ihre braun uns glatt waren.
Lea zuckt mit den Schultern.
"Dann eben Ehemann."
Noch immer kommt mein Gehirn nicht richtig nach.
"Ich habe übrigens gelogen."
Verständnislos sehe ich sie an.
"Bei dem letzten Test. Ich habe gar nicht null Punkte. Aber ich musste trotzdem den ganzen Abend weinen. Erst habe ich geweint, weil ich dachte, ich schaffe die Zulassung zur Klausur nicht und dann habe ich geweint, weil ich euch belogen habe. Aber ich war zu feige, das zuzugeben. Ihr hättet mir doch nie wieder etwas geglaubt."
Perplex sehe ich Lea an. Ihr Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Meine Hand hebt sich ohne mein Zutun und streicht ihr über die Lippen.
"Es ist in Ordnung. Aber keine Lügen mehr, okay?"
Lea nickt schuldig. Dann wird alles schwarz vor meinen Augen.
Ich erwache ruckartig und hebe meinen Kopf an. Mein Nacken ist verspannt und ich erkenne an der Dunkelheit, dass bereits der letzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont untergegangen sein muss. Lea hat ihren Kopf auf das Arbeitsblatt gelegt und erwacht ebenfalls. Jedoch deutlich sanfter als ich. Unruhig sehe ich sie an. Mein Traum schwirrt noch immer in meinem Kopf herum.
"Ich habe etwas seltsames geträumt", sage ich zu Lea, in dem Bedürfnis zu teilen, was ich im Traum erlebt habe.
Seltsam sieht mich Lea an.
"Ich auch."