Rick sah skeptisch auf die Mappe in seiner Hand, bevor er seinen Blick wieder auf den Patienten vor sich richtete.
"Ich bin also ihr sechster Physiotherapeut, richtig? Eine ganz schöne Leistung, innerhalb eines halben Jahres."
Der Mann vor ihm nickte leicht und blicke daraufhin desinteressiert auf das Bild in dem Behandlungsraum. Ein Sonnenblumenfeld wurde von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet und strahlte in einen ganz eigenen Glanz aus. Er gab einen zustimmen den Laut von sich, woraufhin Rick nur eine Augenbraue hochzog.
"Herr Gambe, ich möchte ihnen nicht zu Nahe treten, aber ihre Krankenkasse hat bereits ihre Stundenzahl reduziert. Langsam sollten wir loslegen, sonst kommen sie die ganze heutige Behandlung nicht mehr auf die Beine."
Der Mann fuhr zu Rick herum und nickte zustimmend. Rick schwieg daraufhin und beobachte einige Zeit, wie der Mann sich unbewusst mit der Hand immer wieder über seinen Beinstumpf fuhr. Erst als Rick den Mann auffordernd ansah, bemerkte dieser, dass es nun an ihm wäre, zu reagieren.
"Setzen sie sich doch bitte auf die Liege."
Der Mann kam Ricks Aufforderung nach und setzte sich nach kurzer Zeit auf die niedrige Liege. Unterdessen nahm Rick seinen Rollstuhl und schob ihn in eine Ecke des Zimmers.
"Tom."
Verwirrt sah Rick auf.
"Sie können mich Tom nennen. Sonst fühle ich mich so alt."
Rick verzichtete darauf, seinem Patienten zu sagen, dass er tatsächlich alt aussah. Aber Rick wusste, wie stark Schicksalsschläge Menschen veränderten und wusste ebenso, dass Tom sogar etwas jünger als er selbst war.
"Gut Tom, dann legen Sie doch schonmal ihr Prothese an und ich komme gleich wieder."
Rick hat die Erfahrung gemacht, dass seine Patienten, die erst kürzlich ihren Unfall hatten, meist gerne alleine ihre Prothese aufsetzten. Obwohl Toms Unfall bereits einige Zeit her war, zeigten die viele Wechsel des Physiotherapeuten Rick, dass dieser noch starke Schwierigkeiten mit seiner Situation hatte. Also kam er erst nach einigen Minuten wieder in das Behandlungszimmer. Schon wieder starrte Tom auf das Bild, als würde es ihm etwas bedeuten.
"In ihrer Akte steht, dass sie noch nicht wieder wirklich gegangen sind, seit ihrem Unfall."
Unverwandt blickte Tom Rick an.
"Also Tom, stützen Sie sich doch bitte einfach am Barren ab und machen ein paar vorsichtige Schritte, damit ich ihre Fortschritte einschätzen kann."
Tom ließ sich langsam von der Liege hinabfallen und stützte sich auf sein rechtes Bein. Sein linkes belastete er erst nach und nach. Seinem Gesichtsausdruck hatte Tom Schmerzen, aber Rick wusste, dass sie nicht physischer Natur sein konnten. Bevor Tom jedoch auch nur einen Schritt gegangen war, ließ er sich auf die Liege zurückfallen. Seine Miene war verkniffen.
"Ich kann das nicht."
Ernst sah Rick seinen Patienten an. Es gab einen Grund, warum immer zu ihm die hoffnungslosen Fälle geschickt wurden.
"Sie wollen es nicht."
Panisch sah Tom zu Rick auf, als hätte er Angst, dass Rick soeben sein größtes Geheimnis enthüllt hätte. Dabei könnte jeder, der Tom nur einen Augenblick seine Aufmerksamkeit schenken würde, das erkennen.
"Was fällt ihnen ein, so etwas zu behaupten?", fuhr Tom aus der Haut und in diesem Moment erkannte Rick einen Willen, den es nur zu kanalisieren galt. "Sie wissen gar nichts über mich."
Rick zuckte nur mit den Schultern.
"Sie haben recht. Ich weiß nichts über Sie. Und wer bin ich, dass ich Sie verurteilen könnte? Aber wenn sie es nicht zulassen, dann kann ich ihnen auch nicht helfen."
Tom betrachte wieder störrisch das Bild an der Wand und schien seinen Gegenüber ignorieren zu wollen. Rick blickte auf die Uhr. In einer halben Stunde wäre ihre erste Sitzung vorbei.
"In Ordnung, wie Sie wollen", seufzte Rick schließlich, nachdem er Tom seiner Meinung nach genug Zeit gegeben hatte. "Wenn Sie wollen, können Sie gehen."
Rick deutete mit einer ausschweifenden Bewegung zur Tür und drehte sich um. Am Ausgang angekommen drehte er den Rollstuhl so, dass Tom sich problemlos setzten könnte, wenn er denn bis zur Tür käme. Rick ließ die Tür hinter sich einen kleinen Spalt breit offen. Er wusste, was seine Taten mit Menschen anstellten. Vielleicht waren seine Behandlungsmethoden nicht konventionell, aber meistens funktionierten sie. Nach kurzer Zeit hörte Rick Flüche. Nach einiger weiterer Zeit hörte er Schritte, ein Fallen und schließlich Stille. Rick drehte sich erst wieder um, als er eine Stimme hinter sich hörte.
"Das, was sie getan haben, war ein Verbrechen. Ich könnte sie dafür anzeigen."
Rick drehte sich lächelnd zu Tom herum, dessen Beinstumpf leicht zitterte. Seine Prothese lag quer über den Oberschenkeln.
"Das werden Sie nicht."
Kurz senkte Tom den Blick, bevor er den Kopf schüttelte. Schließlich sah er Rick leicht wehmütig an.
"Das Bild in ihrem Behandlungsraum ist von mir, wissen Sie. Ich war Fotograf."
Überrascht sah Rick seinen Patienten an. Das war ihm tatsächlich nicht bekannt gewesen.
"Warum sind sie es nicht mehr?"
Ein trauriges Lächeln huschte über Toms Gesicht.
"Weil jetzt alles so sinnlos erscheint."
Nachdenklich sah Rick Tom an.
"Kommen Sie morgen wieder?"
Kurz legte Tom den Kopf in den Nacken, wie um einen Gedanken einzufangen.
"Es ist nicht sinnloser, als alles andere, nicht wahr?"
Lächelnd sah Rick Tom nach, wie der den Verhandlungsraum verließ. Rick war sich sicher, dass er Tom am nächsten Tag wieder sehen würde.