Hektisch laufe ich durch die Innenstadt, darauf bedacht, dass ich in jedem Fall pünktlich zur Arbeit komme. Mein Chef hat inzwischen kein Verständnis mehr dafür, dass meine Bahn jeden morgen andere Probleme hat und für ein Auto reicht mein Geld momentan nicht aus. Um genau zu sein, würde es für ein Auto schon ausreichen. Aber wenn ich mir die aktuellen Benzinkosten anschaue, spare ich in einem halben Jahr fast 10000 Euro, wenn ich mit der Bahn pendle. Und davon lässt sich guter Urlaub machen. Wenn das Geld denn existieren würde und ich nicht jeden Monat so viel zahlen müsste, um den Kredit für meine Wohnung abzustottern. Das meine Schuhe sich inzwischen mit Wasser getränkt haben, sodass meine Zehen halb abfrieren, macht das ganze auch nicht unbedingt besser.
Als ich um die Ecke gehe, stoße ich unfreiwillig mit einer Frau zusammen, die anscheinend noch kopfloser als ich durch die Straßen läuft. Prompt ergießt sich ihr Milchshake, was auf jeden Fall die rötliche Färbung vermuten lässt, auf mein weißes Hemd und ich trete unwillkürlich einen Schritt zurück. Das hat mir grade noch gefehlt. Normalerweise wäre jetzt wohl der Moment, wo sie sich entschuldigt und wenigens versucht, ein bisschen der roten Milch von mir zu entfernen. Stattdessen blickt sie mich nur herablassend an.
"Passen Sie doch auf, wo sie hinlaufen!", schnauzt sie mich an und ist so schnell weitergelaufen, dass mir nichts übrig bleibt, als mich perplex im Schaufenster zu betrachten. Vielleicht ist die Vorstellung einer zuvorkommenden Frau auch einfach nur zu tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Schließlich bin ich Lektor für Romanzen und die meisten Manuskripte die eingehen, strozen nur so vor Klischees. Ursprünglich wollte ich Lektor für Krimis werden, aber mit der Zeit bin ich da hängen geblieben, wo ich jetzt bin. Meine Kollegen meinen, ich könnte solche Bücher gut beurteilen, weil ich selbst keine Beziehung habe. Wenn man mich fragt, disqualifiziert mich das eigentlich für diese Tätigkeit. In jedem Fall komme ich jetzt zu spät und bin über und über mit einem Milchshake beschmiert.
Erst als ich den Blick von mir in dem Schaufenster losreiße, bemerke ich, dass jemand lacht. Ich fahre zu der Person herum und erkenne einen jungen Mann, der schräg gegenüber an eine Hauswand gelehnt steht und nun anscheinend sehr amüsiert darüber ist, wie ich aussehe.
Ich schenke ihm nur einen wütenden Blick und gehe weiter in Richtung von meinem Büro. Schließlich habe -hatte- ich eigentlich einen Termin um acht Uhr um ein Manuskript zu besprechen.
Nach einigen Schritten höre ich eilige Schritte hinter mir.
"Warten Sie doch!"
Der junge Mann, der mich eben noch ausgelacht hat, schließt zu mir auf und geht nun zügigen Schrittes neben mir.
"Was wollen Sie?", gebe ich unwirsch zurück und merke, dass die Laune der Frau von eben auf mich abgefärbt zu haben scheint. Liegt warscheinlich an diesem komisch pinken Getränk.
"Ich suche eine Adresse", offenbart mir der Mann und hält mit eine Packung mit Taschentüchern hin. Verständnislos sehe ich ihn an. Er deutet auf mein nasses, ursprünglich weißes Hemd.
"Für den Milchshake."
Nickend nehme ich die Erklärung zur Kenntnis und greife nach den Taschentüchern, um damit tatsächlich das gröbste zu entfernen. "Danke."
Obwohl meine Antwort ebenso knapp wie einsilbig ist, scheint sich der junge Mann nicht daran zu stören.
"Ich suche die Lange-Straße. Ein Passant hat mich bis hierher geschickt. Aber anscheinend geht es hier weder nach rechts, noch nach links."
"Sie sind nicht mehr weit weg. Komm ich zeige ihnen den Weg, liegt ohnehin auf meinem."
Dankbar nimmt der junge Mann den Rest seiner Taschentücher entgegen und geht schweigend neben mir her. Unauffällig schaut er immer wieder auf die Uhr.
"Können wir uns etwas beeilen? Ich habe einen Termin."
Leicht mürrisch fahre ich zu ihm herum.
"Wenn sie jetzt schon zu spät sind, machen ein paar Minuten mehr auch keinen Unterschied. Immerhin sehen sie nicht aus, als ob ihnen jemand etwas über den Anzug gekippt hätte und riechen nach Erdbeeren."
"Sie riechen nicht nach Erdbeeren. Das sind ganz eindeutig Himbeeren!"
Ich ziehe die Stirn in Falten.
"Ist doch das gleiche."
Der junge Mann scheint es dabei belassen zu wollen.
Schließlich kommen wir an der gesuchten Straße an.
"Hier sind wir. Ich gehe schwer davon aus, dass sie die Hausnummer selbst finden?"
Er nickt und geht die Straße entlang. Bevor ich abbiege, blicke ich ihm noch kurz nach. Schließlich schüttele ich über mich selbst den Kopf und sehe zu, dass ich endlich zur Arbeit komme.
Mein Chef empfängt mich nicht anders, als ich es erwartet habe.
"Wo bist du solange geblieben? Und komm mir jetzt nicht wieder damit, dass du deinen Anschlusszug verpasst hast."
Erst als er sich auch zu mir umdreht, werden seine Augen groß und rund.
"Was ist denn mit dir passiert? Ist ein Schwein auf dir explodiert? So kannst du unmöglich in das Meeting. Zieh dir am besten erst was anderes an. Vielleicht hat Katja noch ihren Wollpulli dabei."
Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht, bei dem Gedanken an den krazigen Wollpulli meiner älteren Kollegin. Im Grunde ist mein Chef ein herzensguter Mensch. Er kann es nur nicht haben, wenn seine Mitarbeiter unpünktlich sind oder nicht tadellos aussehen. Sonst ist er eigentlich sehr mitarbeiterfreundlich. Katja darf sogar ihren Hund mitbringen, aber sie arbeitet hier auch schon seit ich denken kann.
"Ach und André?", fragt mein Chef und ich drehe mich nochmal zu ihm um. "Nimm dir Deo, du riechst nach Erdbeeren."
Intuitiv setze ich zu einer Antwort an.
"Dass sind Himmbeeren."